Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
enttäuschten Blick von Treuburg-Sassen auf mir lasten, als ich in Friedrich hineinlief, der gerade die Tür der Herrentoilette hinter sich zumachte.
Wir starrten uns beide schweigend an und ich glaubte, noch nie so viel Verachtung in Friedrichs Blick gesehen zu haben wie jetzt hier, in diesem Gang zwischen zwei Toilettenräumen.
Die Situation war so unwürdig wie makaber und es hätte unserer bisherigen Verbundenheit angestanden, den Ort zu wechseln und die Sache in Ruhe zu besprechen wie unter Freunden. Aber Friedrich sagte nur hocherregt und feindlich: »Wie konntest du, Estelle! Ich bringe dir einen Mann von Adel, Geist und Lebensart und du wirfst dich an einen wie den Utz weg!«
Er war aufgebracht, wütend und sicherlich verletzt bis ins Innere seiner Seele, das begriff ich wohl, denn was lagnäher als der Gedanke, dass, wenn er mich nicht haben konnte, wenigstens ein in seinen Augen Würdiger an seine Stelle treten sollte. Und Utz war alles andere als würdig, Utz war nur eins – reich!
»Also hat Amadeus in allem recht und du hast uns schamlos belogen! Auch du sprichst von der Idee der Liebe, lebst aber die Praxis der Sicherheit. Nun hat auch bei dir der Geldsack das Rennen gemacht. Du tust mir wirklich leid, Estelle!«
Es schwang so viel Verachtung in seinen Worten mit, dass mir das Wasser in die Augen schoss und ich nur noch flehend stammeln konnte: »Es … es … es geschah zu unser aller Wohl … du kennst nicht die Not, Friedrich, in der dein Vater steckt … ich bin das Lamm, das man zur Schlachtbank führt …«
Um euch und auch dich zu retten, wollte ich noch sagen, aber eine Gruppe angetrunkener Gäste schwappte in den Flur, um die gewissen Örtlichkeiten aufzusuchen, und so wurden wir auseinandergerissen.
Als ich schließlich wieder das Foyer erreichte, war er verschwunden und blieb auch für den Rest des Festes unauffindbar.
Da die Herren die Feier gewiss noch bis in den Morgen ausdehnen würden, mich aber schon bei der Entgegennahme des funkelnden, mit einem lupenreinen Diamanten verzierten Verlobungsringes eine bittere Übelkeit befiel, sann ich auf eine Möglichkeit, mich bald zurückzuziehen, ohne unhöflich zu wirken.
Ich überlegte noch, als Utz zu einem Manne trat, der mir von der Statur her sehr vertraut vorkam und den ich wohl nur deswegen nicht gleich erkannte, weil ich ihn in dieser Umgebung nie und nimmer vermutet hätte.
Er schlug ihm, in dem angeheiterten Zustand, in dem er war, jovial auf die Schulter und rief recht lautstark aus: »Mein lieber Radke, dass Ihr noch kommen konntet, freut mich ja sehr. Zwar ist die Verlobung schon über die Bühne, aber ich stelle euch gerne meine Braut vor. Sie ist eine Schönheit, von der Ihr unbedingt ein Foto für Euer illustriertes Blatt schießen müsst.«
Ich dachte, ich würde im nächsten Augenblick ohnmächtig zu Boden sinken, so überwältigte mich das Entsetzen, ausgerechnet hier dem Radke zu begegnen. Doch siegten die Vernunft und mein Selbsterhaltungstrieb, die mir beide wärmstens anempfahlen, schnellstens Fersengeld zu geben, um nicht von Radke fotografiert schon morgen meinen Steckbrief in der Berliner Illustrierten Zeitung vorzufinden, auf dem mich dann die beiden Studenten, der Kutscher und vielleicht auch irgendein zufälliger Spelunkengast und Kumpan von Amoz sofort als die gesuchte Serienmörderin und Blutsaugerin erkennen würden.
So hetzte ich an die Garderobe, schlüpfte in den Pelz und bat Hansmann, der mir wie gerufen über den Weg lief, mich doch bei Utz und Vanderborg mit einer Unpässlichkeit zu entschuldigen.
Ich stürzte aus dem Haus und ließ mich von einer der Mietkutschen, die an der Auffahrt standen, in die Brüderstraße fahren. Es war kein weiter Weg, doch er führte durch einige nicht sehr sichere Viertel, und so erfasste mich sofort Panik, als der Kutscher in einer dieser verrufenen Gegenden plötzlich in einer engen Gasse anhielt. Bei einem verstohlenen Blick aus dem Fenster sah ich zunächst nur wenig, aber ich hörte laute Stimmen und schließlich einen Schuss. Dann erblickte ich zu meinem Entsetzen den Kutscher, der, offenbar vom Bock gezerrt, gegen eine derGaslaternen taumelte. Im selben Moment setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung und die Pferde galoppierten in scharfem Tempo unter dem Knall der Peitsche davon. Ich wurde heftig durchgerüttelt, weil die Kutsche für dieses Tempo auf dem holperigen Pflaster der Gassen nicht ausgelegt war. Normalerweise pflegte ein Kutscher eine sehr viel
Weitere Kostenlose Bücher