Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
verschwand er dann ganz, und ich war mir sicher, dass er eines der Bordelle aufgesucht hatte, für welche Hamburgs Viertel Sankt Pauli berühmt und berüchtigt war. Es wardiese erniedrigende Erkenntnis, die mich alle guten Vorsätze vergessen ließ und mich, nachdem alle in ihre Zimmer im Hotel zurückgebracht worden waren, noch einmal aus dem Haus trieb. Ich winkte eine Mietkutsche heran und gab als Ziel das verrufene Viertel an, was bei dem Kutscher einiges Erstaunen auslöste, weshalb er fragte, ob ich mich da nicht in der Adresse geirrt hätte. Ich schüttelte den Kopf und verlangte noch einmal, genau da hingefahren zu werden.
Er brachte mich zur Reeperbahn, in die Nähe des Spielbudenplatzes, und als ich mich plötzlich so alleine zwischen den angetrunkenen und lärmenden Seeleuten auf der Straße befand, bereute ich meinen spontanen Entschluss bereits. Aber dazu war es nun zu spät. Ich wurde von zwei Matrosen untergefasst und einfach mitgezogen. Wir landeten in einem Lokal, wo ordentlich Bier floss und Frauen mit kaum mehr als einer Schiffermütze bekleidet zu Akkordeonmusik Seemannslieder sangen. Ein wenig fühlte ich mich an den Montmartre erinnert und so entspannte ich ein bisschen, wenngleich ich mich leichtsinnig und lebensfremd schimpfte. Da ich nun aber einmal da war, schien mir mein Vorsatz, kein Blut zu trinken, lächerlich. Wer sollte mich schon hier vermuten? Radke? Ich hielt ihn gewiss für gefährlicher, als er war. So poussierte ich ausgelassen mit den beiden Matrosen und verschwand schließlich mit einem von ihnen in Richtung Hafen, wo vor einem offenbar besonders beliebten Bordell schon an die zwanzig Mann die Bretterwand entlang standen. Wir gingen hinunter ans Wasser, zum Landungssteg der Überseelinien, an dem ein großes Schiff der Kriegsmarine angedockt hatte. Es lag beeindruckend mächtig im Mondlicht und entlockte meinem Matrosen den stolzen Hinweis, dass er auf diesem »Pott« Dienst schieben würde und schon amnächsten Morgen nach Afrika aufbrechen müsse, um die Schutztruppen dort zu unterstützen.
Nun, dachte ich, dann wird sein Fehlen zwar nicht unbemerkt bleiben, aber doch nicht allzu schnell Nachforschungen nach seinem Verbleib auslösen. Er wäre gewiss nicht der erste Matrose, der im Bett einer Hure die Abfahrt seines Schiffes verschlafen hätte. Das jedenfalls würde man vermuten, wenn er nicht pünktlich seinen Dienst antrat.
So war sein Schicksal besiegelt, und im Schatten des großen Schiffes biss ich ihn, trank sein Blut und ließ dann seinen Körper ins Hafenbecken gleiten, wo er sogleich versank.
Ich ging zurück bis zur Großen Freiheit, winkte mir eine Kutsche und ließ mich ins Hotel bringen, wo ich zu allem Unglück im Foyer mit Utz zusammenstieß, der wohl auch soeben erst von seinem Reeperbahnbummel angekommen war. Automatisch fuhr ich mir mit der Hand über den Mund, um eventuell noch vorhandene Spuren meiner Blutmahlzeit zu tilgen. Wir starrten uns einen Moment an, wobei die Verlegenheit nicht nur auf meiner Seite war, und um die Situation zu überspielen, bat Utz mich noch auf einen Genever an die Bar. Ich wusste nicht, was das war, und ließ mich überreden den holländischen Schnaps zu kosten. Er brannte in meiner Kehle und ich brach in Husten aus. Utz lachte, trank zwei weitere Schnäpse und machte dann einen Annäherungsversuch, den ich jedoch abblockte.
Er reagierte ärgerlich, rutschte vom Barhocker und ließ mich mit den Worten: »Dann nicht, wertes Fräulein!« einfach in der Bar sitzen.
Der Barmann warf mir einen mitleidigen Blick zu, den ich aber gar nicht wollte, und so stand ich auf und sagte übertrieben selbstbewusst: »Er weiß nicht einmal mehr,dass wir verheiratet sind. Ich fürchte, ich werde ihn in Zukunft vom Genever fernhalten müssen.« Dann drehte ich mich um und stolzierte davon.
Am nächsten Morgen bereute ich meine Tat zutiefst und es ärgerte mich maßlos, dass ich mich durch das Verhalten von Utz hatte hinreißen lassen, meinen so fest gefassten Vorsatz, in Hamburg abstinent zu bleiben und keine Blutmahlzeit zu halten, so einfach über Bord geworfen hatte. Der Zorn über seine Missachtung hatte mich seelisch geschwächt, und so war mein Widerstand gegen meinen vampirischen Trieb geschmolzen wie Butter in der Sonne. Doch das entschuldigte mein neuerliches Morden nicht und es tat mir ehrlich leid um den jungen Mann, der nun auf dem Grund des Hafenbeckens in seinem nassen Grab ruhte, ohne dass seine Liebste, denn eine solche hatte
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