Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
er gewiss, jemals erfahren würde, warum er nie zu ihr zurückgekommen war. Wohlmöglich saß sie mit seinem Kind in ihrem Leibe nun alleine und ohne jede Unterstützung da …
… das Kind in deinem Schoße hat keinen Vater mehr. Es ruht ein junger Matrose im weiten, tiefen Meer …
Ich musste den Gedanken von mir schieben, denn er war unerträglich. Wie konnte ich nachts in Berlin Almosen an Bedürftige verteilen, wenn es mir egal war, ob ich vielleicht einer jungen Frau den Mann und einem ungeborenen Kind den Vater genommen hatte? Ich schämte mich, eine Vampirin zu sein, und nahm mir noch einmal vor, ernsthaft zu versuchen meinen Blutdurst anders als mit Menschenblut zu stillen.
Trotzdem fuhren wir dann am Nachmittag alle recht hochgestimmt wieder zurück nach Berlin. Ohne Utz, denn der hatte beschlossen, noch ein paar Tage Aufenthaltdranzuhängen, um geschäftliche Dinge mit Hoopmann zu besprechen, in dessen Reederei er ja beträchtliches Geld stecken hatte und mit dem er das Passagiergeschäft in die Kolonien ausbauen wollte.
Ich war nicht traurig drum, die Bahnfahrt versprach ohne ihn auf jeden Fall lustiger zu werden.
»Da hast du dich ja in ein fein gemachtes Nest gesetzt, Hansmann«, scherzte ich, als ich ihm zusah, wie er das Verladen des Reisegepäcks dirigierte.
Er lachte stolz. »Nun, Schwester, du siehst, es ist nicht allein dein Privileg, reich einzuheiraten. Ich hoffe, du wünschst mir Glück.«
»Natürlich, Hansmann«, sagte ich und fügte, weil mir das Unnütze an meiner Hochzeit mit Utz erneut die Galle hochtrieb, ein wenig boshaft hinzu: »Du sollst genauso glücklich sein wie ich.«
Und weil er wohl selber wusste, dass ich mit Utz alles war außer glücklich, warf er mir einen bitterbösen Blick zu und meinte sarkastisch, aber mit einem kleinen mitleidigen Unterton: »Den Glückwunsch brauche ich nicht, Estelle. Ich liebe meine Gertrud und sie liebt mich. Das siehst du schon daran, dass sie mir bald ein Kind schenken wird, weshalb ich ja auch dringend die Wohnung über meinem Laden familiengerecht herrichten musste.« Er musterte mich von Kopf bis Fuß. »Du hingegen bist viel zu schlank, um nicht zu sagen dürr, als dass man annehmen dürfte, ihr, Gertrud und du, könntet zusammen das Wochenbett teilen, was schade ist, denn ich habe wohl bemerkt, wie herzlich ihr beide miteinander seid.«
Ich lachte. »Das hast du recht gesehen, Hansmann, allein mich drängt es nicht danach, schon jetzt ein Kind in die Welt zu setzen. Dazu fühle ich mich noch zu jung. Ihrbeide seid ja immerhin viel älter …« Ich stockte, weil das unhöflich aufgefasst werden konnte, obwohl ich es so nicht gemeint hatte. Schließlich war Gertrud wirklich schon Mitte zwanzig und Hansmann ging auf die dreißig zu.
Aber er nahm es mir nicht übel, obwohl er doch noch einen Scherz auf Utz’ fast biblisches Alter machen musste. »Ja, ja, Estelle, besonders dein Gemahl hat ja noch Flaum im Bart …«
Und ich schämte mich einmal mehr, dass ich mich tatsächlich einem Methusalem hatte antrauen lassen, obwohl ein Mann in den besten Jahren wie Amadeus mit all seiner Leidenschaft um mich geworben hatte. Das Schlimmste aber war die völlige Verkehrung aller Sittlichkeit, dadurch, dass mein Ehemann mich verschmähte und verachtete, während mein heimlicher Geliebter mich aufrichtig und ehrlich liebte.
I m Herbst des Jahres 1903 entband Gertrud unter schlimmen Schmerzen ihren und Hansmanns ersten Sohn, der wenige Wochen später, dem Kaiser zur Ehre, auf den Namen Wilhelm getauft wurde. Ich stand ihr in ihren schwersten Stunden bei, muss aber gestehen, dass das keine gute Idee war, denn es war keine leichte Geburt, wie es die ersten selten sind, und da ich sie sehr lieb gewonnen hatte, war es kaum zu ertragen, sie so leiden zu sehen.
Wenigstens saß ich am Kopfende ihres Bettes und ihr Unterleib war mit Tüchern abgedeckt, sodass mir der Anlick ihres Blutes erspart blieb.
Erfreulicherweise hatte sie eine kräftige Konstitution und ein gebärfreudiges Becken, sodass alles seinen von der Natur vorgesehen Gang ging und nur unserezivilisatorische Zimperlichkeit aus dem Ganzen ein Drama machte. Hinterher, als der Kleine seinen ersten Schrei in den Händen der Hebamme tat, waren jedenfalls alle Schmerzen sehr schnell vergessen, und als der kleine Wurm erst an Gertruds praller Milchbrust saugte, da herrschte schon wieder eine glückliche und gelöste Stimmung, die auch Hansmann seinem Sohn die Quälerei, die er der Mutter bei
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