Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
bedeutete. Die Deichsel war nicht gebrochen und so schirrte ich den Gaul wieder ein. Wir zogen den toten Kutscher in den Straßengraben, von wo ihn später jemand zurück in den Ort transportieren würde. Sein Anblick war gar zu schrecklich, um ihn Agnes während der Rückfahrt zuzumuten. So stieg sie wieder in die Kutsche und ich setzte mich auf den Kutschbock und trieb das Pferd an, das jedoch nur zu gemächlicher Gangart fähig war. Auch wenn die Fahrt deshalb sehr langsam voranging, erreichten wir doch schließlich die nächste Stadt, welche Rastatt war, und dort das Bürgerhaus, in welchem Agnes lebte.
Einer ihrer Urahnen, Francois Besancour, ein Hugenotte aus Frankreich, hatte nach der Pariser Bluthochzeit im Jahre 1572, bei welcher er um Haaresbreite den Mordbuben der Katharina von Medici in der Bartholomäusnacht entkommen war, das Land verlassen und sich und seine Familie ins Badische gerettet. Über die Jahrhunderte war die Familie zu einem gewissen Wohlstand gekommen und heute stand der Vater von Agnes einem großen Handelshaus vor.
Agnes führte mich als ihre Retterin bei ihrer Familie ein und so wurde mir sogleich aus Dankbarkeit Quartier und Mahlzeit angeboten, wovon ich nur kurzfristig Gebrauch machen wollte. Doch zog mich Agnes’ Wesen bald so in seinen Bann, dass ich Tage und Wochen und schließlich sogar Monate, ja mehr als ein ganzes Jahr im Hause ihrer Familie verbrachte und wir miteinander wie Freundinnen waren.
Sie lehrte mich die französische und die deutsche Sprache nicht nur besser sprechen, sondern auch schreiben, brachte mir die Freude am Lesen von Büchern bei und philosophierte mit mir über Politik und Dichtkunst, eine zugegeben seltsame Mischung, aber in der revolutionären Zeit, in der wir uns befanden, nicht ungewöhnlich. Waren es doch die flammenden Gedichte auf den Flugblättern, welche die Menschen aufrüttelten und anstachelten, sich ihre Rechte mit der eigenen Faust zu erkämpfen.
Agnes selbst hatte eine durch ihr Elternhaus geprägte eher zurückhaltende Einstellung zu den Forderungen der unteren Stände, und auch ihr Vater, obwohl von durchaus liberaler Gesinnung, scheute eine offene Solidarisierung mit der demokratischen Bewegung. Aber wir lasen dennoch revolutionäre Gedichte von Freiligrath, Heine und Herwegh und begeisterten uns an dem neuen Geist der Freiheit und der Revolution.
Und als Emma, die Frau des demokratischen Dichters Georg Herwegh, eine Revolutionärin, die den Sansculotten alle Ehre gemacht hätte, kurzfristig ein Versteck benötigte, nahm Agnes sie ohne Zögern auf. Emma war eine Persönlichkeit von unglaublichem Eigensinn, einer faszinierenden Radikalität des Denkens und Argumentierens und einer beeindruckenden Tatkraft, die vollkommen in ihrer Sache aufging. Sie schöpfte einige Tage Kraft bei den Besancours und stieß dann wieder zu den Resten der »Deutschen Demokratischen Legion«, die ihr Mann Georg zum Entsatz für den Freiheitskämpfer Friedrich Hecker in Paris um sich geschart hatte. Die kurze Begegnung mit ihr hinterließ bei uns beiden einen tiefen Eindruck. Mir hatte sie vor Augen geführt, dass nicht allein das Schicksal unser Leben bestimmt, sondern gleichermaßen die Verhältnisse, in denen wir leben müssen.
»Halte den Menschen wie ein Tier und er wird zum Tier,behandle ihn wie einen Bruder und er wird dir ein Bruder sein. Die Köpfe der Fürsten müssen rollen, weil sie selbst sich nie scheuten, Köpfe rollen zu lassen. So kann nur ein Gesetz heute gelten: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Nicht die schlesischen Weber haben durch ihren Aufstand Deutschland das Leichentuch gewebt, wie unser romantischer Freund Heine schreibt, die Fürsten haben es getan!«
Und weil ich Emma darin nur zustimmen konnte, schieden wir in Freundschaft und alle unsere guten Wünsche begleiteten sie. Doch bald erfuhren wir, dass Friedrich Heckers Versuch, in Baden die Revolution auszurufen, gescheitert war und er vor dem Militär in die Schweiz fliehen musste. Über Emmas Verbleib erfuhren wir nichts.
Die Revolution erreichte Rastatt, als sich im Juli 1849 die Reste der von dem polnischen Rebellenführer Mieroslawski befehligten Revolutionsarmee just hier verschanzten und von den Truppen der Konterrevolution eingeschlossen wurden. Die Kartätschen jaulten Tag und Nacht und richteten große Zerstörungen an, sodass die Bevölkerung, trotz ihrer zweifellos vorhandenen Sympathien für die Aufständischen, aufatmete, als sich am 23. Juli die Revolutionäre
Weitere Kostenlose Bücher