Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
war es so weit. Aus sämtlichen Schlafsäcken drang leises Schnaufen oder ruhiges Atmen. Los!
Ich rappelte mich auf, warf mir ein warmes Sweatshirt über, nahm meine Sportschuhe in die Hand und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer und aus dem Haus. Auf der Freitreppe zog ich mir die Schuhe an und lief dann mit freudig klopfendem Herzen hinunter zum See. Aber ich wurde enttäuscht.
Es war niemand da.
Ich wartete. Minuten vergingen. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. Ich lief den Steg auf und ab und begann irgendwann, Gretchens Monolog aus dem Faust aufzusagen: Mein Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmerund nimmermehr … Nach ihm nur schau ich zum Fenster hinaus, nach ihm nur geh ich aus dem Haus … Wie gut konnte ich das nachvollziehen, mir ging es doch kein bisschen anders! Und wie sie ihn beschrieb … so hätte auch ich es tun können … Sein hoher Gang, seine edle Gestalt, seines Mundes Lächeln, seiner Augen Gewalt … Und seiner Rede Zauberfluss, sein Händedruck und ach, sein Kuss … Warum kam er denn nicht? Warum ließ er mich schon seit Wochen warten? So lange warten, dass ich vor Sehnsucht fast schon nicht mehr wusste, was ich tat. Rannte hier wie eine Irre mitten in der Nacht auf dem Steg herum und zitierte Goethe! Aber der Mann wusste, wovon er schrieb, der kannte die Liebe und ihre Leiden … Mein Busen drängt sich nach ihm hin … Ach, dürfte ich fassen und halten ihn … und küssen ihn, so wie ich wollt, an seinen Küssen vergehen sollt! Warum spürte er denn nicht, wie sehr ich ihn herbeisehnte?
Es half nichts. Vielmehr übertrug sich nun auch noch Gretchens Unruhe auf mich, bis endlich kalte Enttäuschung sich in meinem Inneren ausbreitete und meine Sehnsucht schließlich erstarren ließ. Tieftraurig und resigniert trat ich den Rückweg zum Gutshaus an.
Was war geschehen? Warum kam er nicht mehr? War doch alles nur eine Illusion gewesen, die nun der Realität gewichen war?
Verzweifelt suchte ich mir im Dunkeln meinen Weg.
Wo bist du, geliebter Fremder? Warum erscheinst du mir erst im Traum, wenn du mich nun so herzlos von dir weist?
Ich erreichte das Gutshaus, und als ich die Freitreppe hinaufging, stand er an ihrem oberen Ende, schloss mich in seine Arme und küsste mich.
Es war, als wäre ich endlich nach Hause gekommen.
Schlagartig wurde mir klar, dass er und das Gut eineEinheit waren. Welche Beziehung auch immer zwischen ihm und Blankensee bestand, was immer ihn an das Gut fesselte, für mich war keins von beidem ohne das andere denkbar. Vom ersten Augenblick an, als ich von Blankensee erfuhr, tauchte er in meinen Träumen auf, und obwohl diese oft unheimlich und erschreckend waren, hielten sie mich nicht davon ab, Blankensee für die Familie zurückzuholen. Sie bestärkten mich vielmehr darin. Denn mehr noch als für das Gut entflammte mein Herz für ihn, diesen geheimnisvollen, unglaublich anziehenden Fremden, der mir seit Monaten meine Ruhe stahl.
Wie glücklich war ich, ihn endlich wiederzutreffen.
Aber er schien in eine merkwürdige Traurigkeit eingehüllt und jede seiner zärtlichen Gesten, mit der er mich streichelte, wirkte so, als wäre es die letzte, als trüge sie den Abschied bereits in sich. Das machte mir das Herz schwer. Und weil ich diese Geheimnistuerei nicht länger aushielt, wollte ich mehr von ihm erfahren und beschloss, ihn auch noch einmal nach seinem Namen zu fragen.
»Wer bist du, woher kommst du?«, flüsterte ich. »Wieso bist du mir schon vor Jahren in meinen Träumen erschienen?«
»Bin ich das?«
»Ja, gleich nachdem der erste Brief vom Notar kam, in dem er anbot, das Gut Blankensee wieder in den Besitz der Familie Vanderborg zurückzubringen … da träumte ich zum ersten Mal von dir … Ich weiß es noch genau … Du warst ein Schatten …«
»Ich bin es noch …«
Verwundert schaute ich ihn an. Im schwachen Mondlicht sah ich sein bleiches Gesicht, in dem die Augen seltsam glühten, wie heiße Kohle. Ich fand nicht, dass so einSchatten aussah, aber sehr gesund wirkte er auch nicht … obwohl die Blässe zu der schwermütigen Aura, die ihn wie ein Mantel umgab, sehr gut passte …
»Unsinn!«, fiel ich ihm ins Wort. »Wann hätte ein Schatten je so geliebt?«
Er lachte amüsiert. »Und wenn ich zwar kein Schatten, aber ein mystisches Wesen wäre … aus einer anderen Zeit … einer anderen Welt … durch deinen Traum erweckt?«
Jetzt nahm er mich aber auf den Arm! »Wie sollte das gehen? Praktisch, meine
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