Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
zeigte, konnte ich sie mir in dieser Situation sehr gut vorstellen. Sie hatte zweifellos genug Mumm in den Knochen, um diesen Leuten stolz die Stirn zu bieten.
Andererseits fand ich, dass sie bei allem, was sie tat, doch stets auch an Hannah dachte, und konnte mir darum nicht erklären, warum sich die Beziehung der beiden später derart verschlechtert hatte, dass sie so komplett den Kontakt abgebrochen hatten.
In größter Eile bereitete ich also unsere Flucht vor. Hannah war dabei, aber Robert konnte sich auch jetzt noch nicht durchringen. Am Abend hörten wir im Rias eine Rede von Berlins Regierendem Bürgermeister Willi Brandt, in welcher er die Bevölkerung aufrief, »Ruhe zu bewahren«. Alliierte Panzer waren an strategischen Stellen, wie dem Grenzübergang Check Point Charlie, aufgefahren und Panzer der Roten Armee standen ihnen gegenüber. Derweil mauerten unter Bewachung von Soldaten der Nationalen Volksarmee Baubrigaden Fenster und Türen von Häusern zu, die unmittelbar auf dem Grenzstreifen standen, während andere tatsächlich überall in der Stadt eine Grenzmauer errichteten.
»Der Spitzbart ist wahnsinnig geworden!«, schimpfte ich und stopfte wahllos Sachen in den Rucksack.
»Wo willst du denn hin
?
«
»Na rüber, was sonst
?
Meinst du, ich lasse mich hier bei lebendigem Leib einmauern
?
Eher lege ich mich in Blankensee ins geheime Gewölbe und erwarte bessere Zeiten!«
»Du weißt so gut wie ich, dass wir nicht nach Blankensee können …«
Ich hielt inne und sah meinen Mann an. Wie fremd er mir geworden war!
»Robert, das war Sarkasmus! Ich gehe rüber nach Westberlin zu meinen Freunden und Hannah nehme ich mit. Wir haben das schon besprochen. Und wenn du nicht mitkommen willst, dann gehe ich eben ohne dich!«
»Das wirst du nicht machen. Das lasse ich nicht zu! Hannah ist auch meine Tochter. Ich kann über ihren Aufenthaltsort bestimmen, sie ist noch nicht volljährig …«
»Wenn du es nicht mal schaffst, dass sie auf dem Gymnasium bleiben kann, dann hast du auch keine Rechte an ihr! Komm mit oder lass es, noch heute Nacht gehe ich rüber, ehe alles dicht ist.« Ich sah ihn finster entschlossen an. »Du kannst mich natürlich auch an deine Genossen verraten! Vielleicht bin ich ja eine Doppelagentin, dann kriegst du gewiss auch noch einen Orden dafür!«
»Du bist zynisch.«
»Nicht ich – dieses System ist zynisch!«
Ich ging hinüber zu Hannah und half ihr beim Packen.
»Kommt Vati nicht mit
?
«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Liebst du ihn noch
?
«
Ich zuckte die Schultern. »Im Westen, weißt du, im Westen wird er bestimmt wieder der Mann sein, den ich geliebt habe. Dann wird alles wieder besser … auch mit ihm und mir.«
Ich unterbrach meine Lektüre für einen Moment und fragte mich, warum es dann offensichtlich doch nicht mit den beiden geklappt hatte. Denn wenn es so gewesen wäre, dann wäre Oma Lysette ja sicherlich nicht mit diesem David McDarren in die USA gegangen.
Seltsam, meine Mutter hatte ihren Vater gar nicht mehr erwähnt. War er doch in der DDR geblieben? Ich trank einen Schluck Wasser und las gebannt weiter. Alles kam wie ein spannender Roman daher, und ich musste mir immer wieder bewusst machen, dass es das nicht war, sondern die wirkliche Geschichte meiner eigenen Familie.
Es war weit nach Mitternacht, als wir uns aus dem Haus schlichen und in Richtung Grenzübergang liefen. Robert begleitete uns. Jeder hatte einen Rucksack auf dem Rücken mit seinen wichtigsten Habseligkeiten. Ich bedauerte nun, dass ich die Familienchronik auf Gut Blankensee im geheimen Gewölbe zurückgelassen hatte. Aber so sehr es mich auch fortdrängte, so sicher war ich mir auch, dass es kein Abschied für die Ewigkeit sein würde. Irgendwann würde ich nach Blankensee zurückkehren und dort dann auch die Chronik fortführen. Aber jetzt mussten wir erst einmal weg.
Wir erreichten den Sperrbereich. Als Vampirin war ich nun eindeutig im Vorteil. Ich sah und hörte besser als Hannah und Robert und konnte mich darum viel schneller orientieren. Wir waren in der Nähe der Bernauerstraße, wo die Grenze direkt an den Häusern verlief, ja sogar durch einige Häuser mitten hindurch.
»Sie sind dabei, Fenster und Türen zu vermauern, aber einige Fenster sind bisher nur mit Brettern vernagelt, wenn wir ein solches Haus finden, können wir in den Westen springen«, flüsterte ich.
»Aber das ist viel zu gefährlich«, sie patrouillieren
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