Die Dunkle Erinnerung
da, was ein Neunjähriger normalerweise mitgenommen hätte.«
Wieder pflichtete Alec ihr bei. Sie suchten nach Mustern, nach einem Verhalten, das zu einem bestimmten Ergebnis führte. Menschen reagierten auf gewisse Stimuli und verhielten sich dann in vorhersehbarer Weise. Ursache und Wirkung. Das machte die Arbeit des Profilers aus.
»Okay«, fuhr Alec fort. »Wir gehen also von Entführung aus, halten uns aber noch andere Möglichkeiten offen.«
Cathy nickte und holte sich ihren Kaffee wieder.
»Weiter.« Alec sprang vom Tisch und zeigte auf den zweiten Punkt des Zeitstrahls. »Cody war pünktlich um Viertel nach acht in der Schule und hat den ganzen Tag am Unterricht teilgenommen.«
»Und niemandem ist etwas Ungewöhnliches an seinem Verhalten aufgefallen.« Vorsichtig nahm Cathy einen Schluck aus ihrer Tasse, stellte sie wieder ab. »Allerdings taugen die meisten Vernehmungen nicht viel, vor allem die in der Schule nicht.«
Alec hätte es noch ein wenig derber ausgedrückt. Man hatte ihm tatsächlich zu wenig Leute zur Verfügung gestellt, gerade mal ein halbes Dutzend Agenten vom Field Office in Baltimore und dazu ein halbes Dutzend normale Cops – alle noch sehr jung –, die sich die Hacken ablaufen mussten. Er hatte einfach nicht genug erfahrene Leute zur Verfügung.
»Ich will weitere Vernehmungen. Ruf Quantico an und frag, ob Matheson einen Tag rüberkommt und sich die Kids in der Schule vornimmt.« Matheson, ein Spezialist für die Befragung von Kindern, war allerdings ein viel beschäftigter Mann, und man würde ihn wohl kaum zu einem Fall in Baltimore fortlassen, den die örtliche Polizei als Alltäglichkeit betrachtete: Ein Junge war von zu Hause davongelaufen. »Matheson ist mir was schuldig. Sag ihm, ich treib diese Schulden jetzt ein.«
Cathy grinste und machte sich eine entsprechende Notiz. »Und wenn er trotz allem unabkömmlich ist?«
»Dann fahr selbst hin. Deine Fähigkeiten entsprechen am ehesten denen eines ausgebildeten Spezialisten, und du bist wahrscheinlich genauso gut.« Wie die meisten Koordinatoren der CAC-Einheit besaß Cathy Kenntnisse in der Arbeit mit Kindern. Sie hatte einen Doktor in Kinderpsychologie gemacht und bereits fünf Jahre auf diesem Gebiet gearbeitet, bevor sie ins FBI eintrat. »Und wenn Cody bloß etwas anderes zu Mittag gegessen hat – ich will es wissen.«
»Ich ruf dort an.«
»Okay, dann wieder zurück zu unserem Zeitstrahl«, sagte Alec. »Cody ist ungefähr um halb drei aus der Schule gekommen, zusammen mit der zehnjährigen Melinda Farmer, die in die nächsthöhere Klasse geht. Sie sind einen Teil des Heimwegs gemeinsam gegangen und haben sich dann an der Ecke Hull und Marriott getrennt. Von da sind es höchstens zehn Minuten bis zu Codys Zuhause. Und soweit wir wissen, ist Melinda die Letzte, die ihn gesehen hat.«
»Soll Matheson das Mädchen vernehmen?«
»Nein, das machst du. Sie wird bestimmt eher mit einer Frau reden. Melinda ist fast jeden Tag mit Cody zusammen gegangen. Wenn jemand etwas weiß, dann sie. Falls er abgehauen ist, muss sie es wissen. Vielleicht weiß sie sogar, wohin. Und wenn Roy die Hand ausgerutscht ist, weiß Melinda sicher auch davon.«
»Ich setze es ganz oben auf meine Liste. Und was sollen die Ortspolizisten tun?«
»Die sollen Streife gehen. Die Suche ausweiten – zu den Docks, zum Cross Street Market. Ich wette, der Junge hat sich da mal rumgetrieben. Jemand muss etwas gesehen haben. Ich will wissen, wer und was.«
»Hab's notiert.«
Alec stürzte den Rest lauwarmen Kaffee hinunter; er brauchte das Koffein, auch wenn das Gebräu inzwischen kalt geworden war. »Nehmen wir mal an, Cody ist nach Hause gekommen, irgendwann zwischen drei und halb vier. Dann sollte er seine Mutter anrufen, die in der Nachmittagsschicht arbeitete. Er hat nicht angerufen, aber seine Mutter hat behauptet, dass er es oft vergisst. Sie hat also bis vier Uhr nichts von ihm gehört und ruft zu Hause an. Aber zu Hause geht keiner an den Apparat. Codys Mutter nimmt an, dass der Junge zum Spielen rausgegangen ist. Sie ärgert sich zwar, macht sich aber noch keine Sorgen. Ihrer Aussage zufolge war Cody in letzter Zeit ohnehin kaum mehr zu bändigen.«
»Belegt durch die Tatsache, dass er allein im letzten Jahr dreimal weggelaufen ist.«
»Genau.« Alec seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ihm gefiel nicht, worauf das hinauslief. »Okay. Ellen kommt um halb sechs, Cody ist immer noch nicht zu Hause. Jetzt ist sie wütend. Sie
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