Die Dunkle Erinnerung
telefoniert herum – Freunde, Nachbarn –, aber kein Mensch hat ihn gesehen. Dann endlich, um vier Minuten nach zehn, sieben Stunden nach Codys Verschwinden, verständigt sie die Polizei.«
Und da war es vielleicht schon zu spät gewesen.
Vierundsiebzig Prozent der kindlichen Entführungsopfer sind drei Stunden nach der Entführung tot.
Doch Alec konnte nicht glauben, dass Cody tot war. Logische Gründe hätte er nicht nennen können; es war nur das Gefühl, dass dieser Fall anders gelagert war. Er wandte sich von der Schautafel ab und ließ sich in seinen Stuhl an dem riesigen Konferenztisch sinken. Zurückgelehnt schloss er die Augen und fuhr sich wieder durchs Haar, diesmal mit beiden Händen.
»Also, was sagt dein Instinkt?«, wollte Cathy wissen.
Alec wollte es nicht aussprechen, doch die Fakten wiesen eindeutig darauf hin. »Entführung durch einen oder mehrere Unbekannte.« Das waren die schwierigsten Fälle.
»Ja.« Sie klang mutlos. »Das glaube ich auch.«
»Und das Risiko war hoch.« Alec beugte sich vor. »Cody ist ein gewieftes Kerlchen, er kennt sich auf der Straße aus. Er würde auf keinen Fall in ein fremdes Auto einsteigen. Zum Teufel, er würde wahrscheinlich eher die Reifen durchstechen.«
Seit dem Verschwinden von Codys Vater hatte seine Mutter einen Mann nach dem anderen gehabt. Cody hatte also Zeit genug auf der Straße verbracht und hatte Erfahrung.
»Und schau ihn dir an.« Alec schob ihr Codys Foto über den Tisch zu. »Er ist ein hübscher Junge.«
»Das sind sie alle.«
»Cody besonders.« Der Junge besaß das Gesicht eines Engels, auch wenn er diesen Eindruck durch einen finsteren Blick zu verhehlen suchte. Dunkelblaue Augen, schwarze Wimpern. Sein Haar wirkte wie mit Gold gesprenkelt, auch wenn es verfilzt und schmutzig war. »Ich wette, dass er schon im Alter von fünf Jahren wegen seines Aussehens Kämpfe auszutragen hatte.« Alec tippte mit dem Finger auf das Hochglanzbild. »Dieser Junge wurde gezielt als Opfer ausgewählt.«
»Kann sein.« Cathy zuckte die Achseln.
»Und dazu noch eine Entführung mit hohem Risiko.« Die schlimmstmögliche Kombination. »Wer immer diesen Jungen entführt hat, war ein Profi, der eine solche Tat schon viele Male verübt hat und genau wusste, worauf er sich einließ.«
»Und?«
Die Wahrheit war furchtbar, doch Alec hatte es immer vorgezogen, auch dem größten Schrecken ins Auge zu blicken. »Wir werden Cody nur mit sehr viel Glück finden.«
»Oder wenn der Kidnapper außerordentlich blöd ist.«
Alec zog eine Augenbraue hoch, dann schüttelte er langsam den Kopf. Sie wussten beide, wie unwahrscheinlich die zweite Möglichkeit war.
4.
Die erste Meile war immer die härteste. Danach fand Erin ihren Rhythmus; Geist und Körper konzentrierten sich nur noch auf die Anstrengung des Laufens. Ihre Gedanken verstummten, und der innere Monolog endete. Erin vergaß Claire und die CIA, ihre Kurse und Schüler in Georgetown, den wachsenden Berg Rechnungen, den Tod der Mutter und selbst die Sorge um Janie.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Atmung, den steten Schlag ihres Herzens und den Rhythmus ihrer Füße auf dem harten Lehmboden. Sie glitt in eine Welt der Stille, die sie nur beim Laufen erleben konnte.
Erin hatte in ihrer Teenagerzeit mit dem Joggen begonnen, in den Monaten nach Claires Verschwinden. Das erste Mal war sie nach einem Streit mit ihrer Mutter gejoggt. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, weshalb sie sich gestritten hatten, doch auf jeden Fall war der Streit aus ihrem gemeinsamen Schmerz um Claire entstanden. Erin war wutentbrannt aus dem Haus gestürzt und einfach losgerannt, vor ihrer Mutter davongelaufen, vor Claires Geist. Später war sie stets vor ihrer Angst und ihrer Schuld geflüchtet.
Zwei Stunden später war Erin nach Hause gekommen, zwar körperlich erschöpft, doch wunderbar entspannt. Nun konnte sie ihre Mutter wieder anschauen. Diese war so erleichtert über Erins Rückkehr, dass sie ihre Tochter nicht bestrafte. Damals hatte Erin das nicht verstanden. Jetzt schon. Nach dem Verlust Claires hätte ihre Mutter den Verlust Erins nicht überlebt.
Seit dieser Zeit war Erin regelmäßig gelaufen, immer dann, wenn der Verlust ihrer Schwester zu bedrückend wurde oder wenn das Teenagerleben zu schwer auf ihr lastete. Das Laufen half auch beim Kampfsporttraining. Sie wurde stärker und schneller, kräftiger und konnte sich besser konzentrieren.
Auch jetzt, nach all den Jahren, gehörte das Laufen zu
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