Die Dunkle Erinnerung
Holzumrandung.
Rasch füllte sich der Spielplatz mit Menschen. Mütter schoben Kinderwagen oder schubsten ihre Sprösslinge an, die auf den Schaukeln saßen. Auch Väter waren dabei. Familien. Erin wünschte, auch Janie könnte in einer normalen Familie leben, doch dieser Wunsch würde kaum in Erfüllung gehen. Die Identität von Janies Vater lag irgendwo in Claires geschädigtem Verstand begraben, falls sie den Mann je wirklich gekannt hatte. Und was Claire selbst betraf, konnte man sie schwerlich als treu sorgende Mutter bezeichnen.
Erin ließ sich auf die Bank fallen, lehnte den Kopf an die Rückenlehne und machte die Augen zu. Wärmend und tröstlich schien ihr die Sonne ins Gesicht. Es war ein schöner Tag, wie geschaffen für einen Ausflug, und sie wollte ihn nicht mit Sorgen über Dinge verschwenden, die sie ohnehin nicht ändern konnte.
Der Herbst hatte sich noch einmal zurückgezogen und dem Sommer sein Recht eingeräumt. Der blaue Himmel leuchtete so hell, dass es fast in den Augen schmerzte. Die Bäume standen noch im vollen Schmuck ihres grünen Blättergewands, und die letzten Blumen des Sommers, Lilien und Alpenveilchen, streckten sich dem Licht entgegen.
Pflanzen hatten nie zu Erins besonderen Interessen gehört, doch nun ertappte sie sich dabei, wie sie sich die Namen vorsagte, die sie einmal für die Durchführung einer verdeckten Operation hatte lernen müssen, als sie in die Rolle einer Floristin geschlüpft war. Erin konnte nie nachvollziehen, was an der Aufzucht von Pflanzen so geheimnisvoll sein sollte, doch nach jenem Einsatz hatte sie gelernt, die Schönheit insbesondere der Blumen zu bewundern, sodass sie schließlich neugierig auf deren Namen geworden war.
In diesem Augenblick bimmelte eine kleine Glocke.
Erin setzte sich auf. Ein Eiskremverkäufer schob seinen Karren in Richtung Spielplatz. Aufregung packte die Kinderschar, und sofort wurden sämtliche Eltern um Geld angebettelt. Dann rannten die Glücklichen auf den Mann mit dem Eis zu, die kleinen Fäuste um zerknitterte Dollarnoten geballt.
Zu schade, dass Janie nicht mit dabei war. Zwar war es noch ein wenig früh für ein Eis, aber das machte den Spaß nur umso größer. Erin stand auf und ging zu den Kindern hinüber. Vielleicht konnte sie Janie ein Eis mitbringen.
Beim Näherkommen sah sie, dass der Eismann noch gar nicht mit dem Verkauf begonnen hatte. Stattdessen unterhielt er sein atemloses Publikum mit Taschenspielertricks. Ein kleines Mädchen quietschte vor Vergnügen, als er ihr eine Münze aus dem Ohr zog, um sie sogleich mit einer raschen Bewegung der anderen Hand verschwinden zu lassen.
Als Straßenzauberer war der Mann gar nicht schlecht. Im Gegenteil, je länger Erin zuschaute, desto besser fand sie ihn. Außerdem kam er ihr irgendwie bekannt vor. Anfangs wusste sie nicht, weshalb, dann aber ging ihr auf, dass es seine Hände waren. Die sparsame Art, wie er sie bewegte, wie er eine Münze aus der Luft holte oder die Wange eines Kindes streichelte, ohne sie tatsächlich zu berühren …
Erin erschauerte.
Woher kenne ich diesen Mann?
Sie betrachtete die Hände, musterte den Mann. Sie war sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Die Erinnerung nagte an ihr, es war ein unheimliches Gefühl des Wiedererkennens. Der Mann mochte zwischen vierzig und fünfzig sein. Er maß einsfünfundsiebzig, vielleicht sogar einsachtzig. Hellblaue Augen. Beginnende Glatze. Bauchansatz. Ein unscheinbarer Typ. Das allein schon machte Erin zu schaffen.
Als der Zauberer seine Vorstellung beendet hatte, begann er, seinen kleinen Zuschauern Eis zu verkaufen. Die Kinder hatten aber noch nicht genug von seinen Tricks und bettelten um mehr. Er gab ihrem Wunsch nach, indem er das nächste Eis hinüberreichte und den Dollar seiner kleinen Kundin mitten in der Luft verschwinden ließ.
Erin musste herausbekommen, wo sie den Mann schon gesehen hatte.
Sie wollte auf ihn zugehen, verharrte dann aber. Instinktives Misstrauen und ihre beruflich antrainierten Reflexe gewannen die Oberhand. Außer der Ahnung, dass er ihr vage bekannt vorkam, war da ein weiteres verstörendes Gefühl. Mit dem Mann … stimmte etwas nicht. Irgendetwas war verkehrt. Erin versuchte, sich einzureden, dieser Gedanke sei töricht. Dieser Mann war bloß Eisverkäufer, und keines der Kinder schien Angst vor ihm zu haben. Dennoch hielt Erin sich im Hintergrund zwischen den Eltern, las den Namen auf dem Karren – KAUFFMAN FARMS – FEINE EISKREM – und prägte sich
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