Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Dunkle Erinnerung

Die Dunkle Erinnerung

Titel: Die Dunkle Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Lewin
Vom Netzwerk:
ihrem Leben; es war ein Heilmittel, das sie in Form hielt. In der Woche stand Erin als Erste auf und marschierte zum Jamestown Park, wo ein Weg für Jogger und Mountainbiker angelegt war. Er folgte dem Lauf eines Baches, der in den Potomac mündete. Der gesamte Weg hatte eine Länge von acht Meilen, und an jeder Meile stand ein Stein. Montags bis freitags lief Erin sechs Meilen. An Wochenenden schlief sie ein bisschen länger, stand gegen sieben Uhr auf und lief die gesamten acht Meilen.
    Heute war sie später als gewöhnlich. Die Unterhaltung mit Bill hatte sie dermaßen aufgewühlt, dass sie fast die ganze Nacht wach gelegen hatte. Es lag an seiner Bemerkung über ihre Wut. Erin wusste, er hatte Recht, aber nachdem sie sich stundenlang unruhig herumgewälzt hatte, wurde ihr klar, dass Bill diese Wut auf eine falsche Ursache zurückführte. So viel war richtig: Erin vermisste ihre aufregende Auslandstätigkeit als verdeckt arbeitender CIA-Offizier, sie vermisste die Gewissheit, dass ihre Arbeit etwas galt, dass sie ihrem Land in einer ihr angemessenen Weise diente. Hier in der Heimat dagegen saß sie in einer Warteposition, bis ihre Vorgesetzten entschieden hatten, was mit ihr geschehen sollte. Dennoch gab es eine wunderbare Entschädigung für die berufliche Stagnation: Janie. Wenige Monate mit dem Kind hatten Erin gelehrt, welch einen Schatz sie da beinahe verpasst hätte. Inzwischen würde sie die Chance, das Kind aufwachsen zu sehen, für nichts in der Welt eintauschen.
    Dennoch, ihre Wut loderte zu dicht unter der Oberfläche, da hatte Bill Recht. Die Frage war nur, woher rührte diese ungezähmte Wut? Die Antwort lag in Claires Entführung begründet, in jener Tat, die das Leben von Erins liebsten Menschen unwiderruflich verändert hatte. Die Bestie, die Claires Unschuld gestohlen und ihre gesamte Familie erschüttert hatte, zog immer noch ihre unsichtbaren Fäden und hatte sie alle zu den Menschen gemacht, die sie nun waren.
    Erin hasste ihre Hilflosigkeit und verachtete sich dafür, keine Kontrolle darüber zu haben. Immer noch war sie Opfer, wie damals im Alter von zwölf Jahren. Das war die wahre Quelle ihrer Wut und der Grund dafür, dass sie jeden Augenblick zum Zuschlagen bereit war. Und sie wusste nicht, was sie dagegen tun sollte.
    Als am östlichen Horizont der neue Tag heraufdämmerte, war Erin endlich eingeschlummert; deshalb schlief sie tief und fest, als Janie um halb neun ins Zimmer gestürzt kam. Die Siebenjährige brachte Morgensonne und pure Energie mit sich. Sie sprang auf Erins Bett, um ihre Schlafmütze von Tante zu wecken. Eine halbe Stunde später war Erin zum Laufen in den Park gekommen.
    Als sie nun das Ende des Joggingpfads erreicht hatte und sich wieder zum Parkeingang wandte, überlegte Erin, ob sie noch eine Meile dranhängen sollte. Sie war immer noch angespannt und musste sich auspowern.
    Dann aber fiel ihr ein, was sie Janie versprochen hatte. Wenn sie, Erin, nach Hause kam, würde ihre kleine Nichte am Frühstückstisch sitzen und viel zu aufgeregt sein, um noch etwas zu essen. Wie der Besuch in der Pizzeria am Freitagabend war auch der Samstag zu einem besonderen Tag für Tante und Nichte geworden. Häufig fuhren sie zu den Sehenswürdigkeiten in und um Washington und besuchten die üblichen Touristenattraktionen: die Mall, die Prachtstraße im Zentrum der Stadt, Denkmäler und Museen. Besonders das Kunstmuseum hatte es Janie angetan. Dreimal hatte sie mit Erfolg um einen wiederholten Besuch gebettelt. Mit dem Auge des kindlichen Künstlers nahm sie alles in sich auf und übertrug es später auf ihren Zeichenblock.
    Heute jedoch sollte es in den Zoo gehen. Janie hatte die ganze Woche über nichts anderes geredet. Sie wollte unbedingt die Pandabären sehen.
    Statt also noch eine oder zwei Meilen zu joggen, ging Erin schnellen Schrittes zur nächsten Bank. Wenn sie den Nachmittag mit Janie verbrachte, konnte sie ruhig auf das Extratraining verzichten.
    Während Erin ihre angespannten Muskeln lockerte, schaute sie sich um.
    In diesem Teil des Parks war ein Spielplatz angelegt worden. In der Mitte stand ein knallbuntes Labyrinth mit Rutschen und Kriechtunneln, Leitern und Kletterstangen. Außerdem gab es zweierlei Schaukeln: niedrige mit breiten, sattelartigen Sitzen für Babys und Krabbelkinder, andere mit schmalem Sitzbrett an langen Ketten für größere Kinder. Außerdem Wippen in Tiergestalt auf klobigen Sprungfedern, kleine Karussells und einen Sandkasten mit

Weitere Kostenlose Bücher