Die Dunkle Erinnerung
einen Neuling, der die Dinge wieder in die richtige Perspektive rückte. »Sie haben Recht. Ich werde mir anhören, was sie zu sagen hat.«
Sie gingen auf die Gruppe der Polizisten zu. Alec musterte die Frau. Sie war mittelgroß, schlank und jung, mit kurz geschnittenem dunklen Haar. Sie trug ausgeblichene Jeans und einen leichten Pullover. Einen Augenblick glaubte Alec, es handele sich um einen Irrtum, und er habe ein Kind vor sich. Doch sie bewegte keinen Muskel und verriet so ihr wahres Alter. So jung konnte sie nicht mehr sein, wahrscheinlich Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Eine ruhige Frau, ungewöhnlich beherrscht. Ob sie etwas auszusagen hatte oder nicht – eine Spinnerin war sie auf keinen Fall.
Mit kaum merklichem Nicken begrüßte sie Alec.
»Special Agent Alec Donovan«, stellte er sich vor und zeigte seine Marke. »Ich gehöre zur CAC, der …«
»Die Abteilung für Verbrechen gegen Kinder. Ich weiß, Agent Donovan.«
Das kam überraschend. Wenige Leute aus der Bevölkerung hatten jemals von der CAC gehört. »Und Sie sind …?«
»Erin Baker.«
»Dieser Officer«, Alec wies auf den jungen Polizisten, »hat mir gesagt, Sie wüssten etwas über das verschwundene Mädchen.«
»Ich habe den Mann gesehen, der sie entführt hat.«
Alec hatte so etwas erwartet, doch die Art, wie die Frau es sagte, verwunderte ihn. Sie sprach völlig gelassen und schaute ihm fest in die Augen. »Ich hoffe, dass Sie sich nicht irren, Miss Baker …«
»Dr. Baker. Dr. phil. nicht Dr. med.«, fuhr sie fort, bevor Alec nachhaken konnte. »Ich lehre in Georgetown.«
Wollte sie ihn damit beeindrucken? Wichtige Informationen, die zu Chelsea Madden führten, wären ihm lieber gewesen. »Also schön, Doktor Baker.« Alec wies auf mehrere Picknicktische, die hinter einer Baumgruppe standen, wo ein provisorischer Kommandoposten entstanden war, geschützt vor Reportern, Schaulustigen und den vielen Uniformierten. »Reden wir dort.«
»Kommen Sie mit«, sagte er zu dem jungen Polizisten. »Ich möchte, dass Sie das auch hören.«
Der junge Mann nickte, und sie begaben sich zu den Tischen. Alec deutete auf eine Bank. »Setzen Sie sich, Dr. Baker.«
»Danke, ich stehe lieber.«
»Okay.« Alec passte sich ihrer sachlichen Haltung an. »Sie sagen, Sie haben den Kidnapper gesehen.« Er verschränkte die Arme. »Das überzeugt mich noch nicht.«
Die Frau legte den Kopf ein wenig schief, als ob sie Maß nähme, bevor sie sprach. »Ich war heute Morgen hier im Park, zwischen neun und zehn.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Ich bin gelaufen.«
Interessante Wortwahl. Laufen. Nicht joggen. »Tun Sie das öfter?«
»Jeden Morgen. Normalerweise aber so gegen sechs.«
»Weiter.«
»Als ich meine Runde gelaufen war, kurz nach zehn, habe ich einen Eismann gesehen.«
»Ziemlich früh, um Eis zu verkaufen.«
»Das habe ich mir auch gedacht.« Die Frau holte tief Luft, verschränkte dann ebenfalls die Arme vor der Brust. »Er hat die Kinder mit Zaubertricks beeindruckt. Und ich …«
»Moment mal. Was genau hat er gemacht?«
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Tricks mit Münzen. Sie wissen schon … man fischt sie scheinbar aus der Luft oder hinter den Ohren hervor. Solche Tricks. Als der Mann dann mit dem Verkauf anfing, hatte er schon ein ganz nettes Publikum versammelt.«
Alec fühlte sich plötzlich unbehaglich, ihm gefiel die Richtung nicht, in die seine Gedanken strebten.
»Fehlt Ihnen was, Agent Donovan?«
Mit einem Ruck riss er sich aus seiner Erstarrung. »Alles okay. Sie sagten, er hat Zaubertricks vorgeführt …«
»Kennen Sie diesen Mann?«, wollte die Frau wissen.
Nur gerüchteweise und aufgrund der Aussage eines jungen traumatisierten Mädchens. Außerdem war es Jahre her. Niemand hatte ihrem Bericht Glauben geschenkt. Nur Alec. »Was noch, Dr. Baker?«
Sie schaute ihn einen Augenblick nachdenklich an. »Ich wusste, dass ich ihn schon mal gesehen hatte, kam aber nicht darauf, wo das gewesen ist. Als ich die Nachricht über das vermisste Mädchen hörte, fiel es mir wieder ein.«
»Wo haben Sie ihn gesehen?« Alec spürte, wie ihm der Atem knapp wurde.
»In einem Park in Miami.« Zum ersten Mal lag ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. »An dem Tag, als meine jüngere Schwester entführt wurde.«
Alecs Gedanken rasten. War das möglich?
Der Mann, den sie beschrieb, durfte eigentlich nicht existieren. Er war eine Erfindung, ein Mythos in den Kreisen der Ermittlungsbehörden. Niemand wollte
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