Die Dunkle Erinnerung
pflegten sie zu sagen, »haste deine Kristallkugel dabei?« Sie nannten ihn Mulder und machten abfällige Anspielungen á la Akte X. Einmal hatte ein Päckchen Tarotkarten in schwarzem Geschenkpapier mit leuchtenden Silbermonden auf seinem Schreibtisch gelegen. Alec hatte es mit einem Lachen quittiert, musste jedoch erkennen, dass er in dieser Behörde mit ihren lehrbuchhaften und minuziösen Ermittlungsmethoden ein Außenseiter war. Doch als er immer mehr Fälle auf seine Weise löste, verwandelte die gutmütige Spötterei sich in Respekt. Und inzwischen hatte Alec gelernt, auf seine Intuition zu hören.
Heute Abend jedoch schien sein Instinkt ihn im Stich zu lassen.
Eine Hundestaffel durchkämmte den Park, doch bis jetzt war nichts gefunden worden. Die Dunkelheit erschwerte die Suche, doch es war Eile geboten, denn am nächsten Morgen konnte es für Chelsea Madden bereits zu spät sein.
Jedes Jahr werden mehr als achtundfünfzigtausend Kinder von Fremden gekidnappt – Personen, die nicht zur Familie gehören. Ungefähr hundertfünfzehn dieser Kinder müssen eine lange, traumatische Gefangenschaft durchstehen. Sechsundfünfzig Prozent der Entführungsopfer werden lebend wiedergefunden, vierundvierzig Prozent jedoch getötet. Und vierundsiebzig Prozent der Mordopfer sterben innerhalb von drei Stunden nach ihrer Entführung.
Alec brauchte eine Zigarette. Dringend. Stattdessen zog er eine Rolle Magendrops mit Fruchtgeschmack aus der Tasche und steckte sich einen in den Mund. Vor fast zwei Jahren hatte er das Rauchen aufgegeben und vermisste es normalerweise nicht. Schlimm wurde es nur in Nächten wie dieser, wenn sein Magen brannte und sein Schädel brummte.
Wieder warf er einen Blick auf die Eltern. Sie waren nicht mehr allein. Ein Geistlicher war zu ihnen getreten und murmelte tröstliche Worte. Worte, die Alec schon lange nicht mehr zu bieten hatte.
An Tagen wie diesen erwog er ernsthaft, beim FBI aufzuhören oder zumindest seine Arbeit in der CAC-Einheit aufzugeben. In solchen Nächten, wenn er sich unfähig fühlte, wieder einmal einer verzweifelten Mutter oder einem zornigen Vater gegenüberzutreten. Nächte, in denen er der Meinung war, jemand anders könne sich damit abrackern, vermisste Kinder zu suchen.
Doch dann wurde ein Kind gefunden. Lebend. Traumatisiert. Vielleicht sogar verletzt oder auf eine andere, verborgene Weise geschädigt. Aber lebend. Und dann wusste Alec, dass er diese Arbeit nicht einfach aufgeben konnte. Und wenn sie ihn umbrachte, was nicht unwahrscheinlich war – er musste dabeibleiben.
Nur um ein weiteres Leben zu retten, falls er konnte.
Alec betete mit aller Kraft und zu sämtlichen Mächten, die vielleicht über das Schicksal von Kindern bestimmten, dass sie in dieser Nacht Erfolg haben sollten.
Er beobachtete mehrere Cops; sie scharten sich um eine Frau, die man durch die Sperre gelassen hatte. Kurze Zeit später löste sich einer der Polizisten aus der Gruppe, sprach ein paar Worte in sein Funkgerät, schaute sich suchend um und kam auf Alec zu.
Alec sah dem Mann entgegen und hoffte, dass es erste Hinweise gegeben hatte.
»Agent Donovan, das sollten Sie sich anhören«, sagte der junge Officer beim Näherkommen.
»Was denn?«
»Die Frau da«, er nickte zu der Gruppe hinüber, »behauptet, den Kidnapper gesehen zu haben.«
Alec überlegte. Kurz nachdem Chelseas Mutter das Verschwinden ihres Kindes gemeldet hatte, war der Park abgesperrt worden, und man hatte die gesamte Nachbarschaft vernommen. Das war gute fünf Stunden her. »Wo hat sie denn gesteckt?«
»Sie sagt, sie habe es eben erst in den Nachrichten gehört.«
»Aber hat sie etwas gesehen?«
Die meisten Augenzeugen eines Verbrechens wussten nicht genau, was sie tun sollten, und riefen die kostenlose Hotline an. Die Zeugen hingegen, die persönlich am Tatort erschienen, waren meist irgendwelche Spinner.
»Sie besteht darauf, mit jemand zu reden, und Detective Smith ist zu sehr mit der Suche beschäftigt. Er meint, die Frau sollte lieber mit Ihnen sprechen.«
»Hab ich ein Glück.« Nun ja, er hatte versprochen zu helfen und konnte jetzt schlecht einen Rückzieher machen.
»Ihre Geschichte ist ein bisschen wirr«, sagte der Cop, »aber ich schätze, wir können es uns nicht leisten, irgendwelche Hinweise zu ignorieren.«
Alec spürte die leise Zurechtweisung, doch er wusste, dass der andere Recht hatte. Abstumpfung war eine der Gefahren, wenn man zu lange in dem Beruf arbeitete. Manchmal brauchte es
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