Die Dunkle Erinnerung
gehen wollte. Alec fand es nicht gut, dass sie mit William Neville sprechen wollte. Selbst nach Erins Beinah-Geständnis, der CIA anzugehören, versuchte Donovan weiterhin, ihr den Besuch in der Botschaft auszureden. Schließlich aber hatte er eingesehen, dass es nutzlos war. Erin war fest entschlossen. Also hatte er einen Van mit Kommunikationsausrüstung und einen FBI-Techniker geordert, der sie überwachen sollte.
Erin nahm an, dass Donovan auf diese Weise die Illusion aufrechterhielt, er habe die Lage unter Kontrolle. Das verstand sie nur zu gut. Andererseits mochte sie gar nicht daran denken, was seine Vorgesetzten dazu sagen würden: FBI-Agent benutzt Abhörtechnik seiner Behörde, um CIA-Offizier in ausländischer Botschaft zu überwachen. Na ja, wenn Donovan später Probleme kriegte, war das seine Sache.
Sie selbst hielt sich ja auch nicht an die Vorschriften.
Folglich hatte sie eingewilligt, Sender und Empfänger zu tragen. Sie brauchte zwar nicht Donovans Erlaubnis, um Neville zu sprechen, aber wenn er mit der Überwachung glücklich war, konnte auch sie damit leben. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie unter Aufsicht arbeitete.
Erin warf einen Blick auf die Uhr. Nun wartete sie schon fünfzig Minuten. Sam würde sie niemals ohne Grund hängen lassen, und das machte ihr Sorgen. Sie hatte am Nachmittag mit ihm gesprochen. Sam war auf einer heißen Spur gewesen, hatte allerdings nicht darüber sprechen wollen, bevor er nicht sicher war. Nun wünschte Erin, sie hätte ein wenig mehr Druck gemacht.
Nachdem sie nach Hause gekommen war, hatte sie ihn sofort angerufen, um ein Treffen zu vereinbaren. Es war früh am Montagmorgen, doch Erin wusste, dass er im Büro war. Bisweilen fragte sie sich, ob er überhaupt ein Zuhause hatte oder ob er in seiner kahlen, engen Bürozelle übernachtete.
Wie Erin gedacht hatte, wartete Sam bereits auf ihren Anruf. Sie hatten sich wieder einmal auf einem Parkplatz getroffen, diesmal vor einem Wal-Mart. Anderson sah aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Er hatte Informationen über Claires Entführung gesammelt, doch der wirklich aufregende Teil waren die Neuigkeiten über William Neville.
»Der Typ ist ein wahrer König Midas«, sagte Sam und händigte Erin so viele Berichte aus, dass sie nicht einmal im Traum auf den Gedanken kommen konnte, sie alle noch im Auto zu lesen. »Er hat eine kleine, abgewirtschaftete Reederei geerbt, den letzten Aktivposten aus dem schwindenden Familienbesitz. Doch er hat sie zu einem florierenden Unternehmen ausgebaut und so große Gewinne eingefahren, dass er expandieren und andere Firmen aufbauen konnte, besonders in Märkten der Schwellenländer. Er investiert in Diamantenminen in Südamerika, neue Technologien in Südostasien und in Banken in Osteuropa.
Ach ja, und er hat seine Frachtzinsen angehoben, um Kapital für seine neuen Unternehmen flüssig zu machen. In den letzten dreißig Jahren hat er ein ganz nettes Imperium aufgebaut.«
Erin nickte. Ungefähr so viel hatte ihr Alec Donovan auch schon verraten. Nichts Neues also.
»Aber jetzt halt dich fest.« Sam nahm seine Brille ab und polierte sie am Hemd. »Ich sehe schon, dass du nicht besonders beeindruckt bist. Aber diese Reederei … also, meinen Quellen zufolge hat Neville ihren Erhalt nur sichern können, indem er Sklaven schmuggelte, an der afrikanischen Küste.« Er grinste bis über beide Ohren. »Kannst du dir das vorstellen? Er ist ein moderner Sklavenhändler.«
Erin grinste nicht.
»Schlimme Sache«, beeilte sich Sam zu sagen. »Schrecklich, verachtenswert. Aber wer hätte das gedacht?«
»Und was tut er jetzt, Sam? Was ist sein neuestes Hobby?«
»Nun, oberflächlich betrachtet hat er eine blütenreine Weste. Allerdings ist er ein rücksichtsloser Geschäftsmann. Man sollte sich ihm keinesfalls widersetzen. Wenn er deine Firma haben will, gibst du ihm besser gleich die Schlüssel. Das ist zwar an sich kein Verbrechen, aber wenn man tiefer gräbt, fragt man sich doch … einmal ein rücksichtsloser Scheißkerl, immer ein …«
»Sam!«
»Er hat Verbindungen zu Saudi-Arabien und zum Iran. Auch das ist an sich kein Verbrechen, aber …« Sam schüttelte den Kopf und sammelte seine Akten wieder ein. »Es ist noch zu früh, um ein endgültiges Urteil abzugeben. Ein Typ wie dieser Neville verbirgt sich unter so vielen Schichten, dass es eine ganze Weile dauert, bis man sie alle abgetragen hat. Und ich hatte«, ein demonstrativer Blick auf die Uhr,
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