Die dunkle Göttin
von einer niedrigen Befestigungsmauer geschützt. Neuere Gebäude und Höfe breiteten sich von der Altstadt an den Straßen der Kreuzungen aus. Alle Straßen trafen sich jedoch letztlich an dem kleinen See zu Füßen des Granitfelsens, auf dem der Tempel stand. Kaeritha trottete auf dem Weg dorthin mit Wölkchen an Arbeitern vorbei, die die Felder bestellten.
Der Tempel besaß eine eigene Befestigungsmauer, die noch höher war als die um die Altstadt. Sie erhob sich gefährlich dicht am äußersten blanken Rand des steinernen Fundamentes des Tempels. Die Tempel der Lillinara im Reich der Axt wiesen keine derartigen Sicherheitsmaßnahmen auf, aber schließlich war das Reich auch das älteste und befriedetste aller Reiche von Norfressa. Auf der Ebene des Windes hatte weit weniger Ordnung geherrscht, als Quaysar gegründet wurde. Woran sich wahrscheinlich gar nicht so viel geändert hat, dachte Kaeritha. Jedenfalls waren Unruhen bei den Sothôii vorstellbar. Die Zeiten der Zerrütterung lagen so weit noch nicht zurück. Angesichts dieser Geschichte konnte sie den Erbauern des Tempels nicht verdenken, dass sie ihn nicht nur an einer Stelle errichtet hatten, die gut zu verteidigen war, sondern ihn auch darüber hinaus gut befestigt hatten.
Die Mauer versperrte ihr zwar einen Blick auf die Tempelanlagen, doch die drei traditionellen Türme, die jeder Tempel der Lillinara aufwies, ragten hoch in den Himmel. Der Turm Der Mutter wurde mit seinem runden Vollmond aus Alabaster von dem etwas niedrigeren, mit einem Halbmond geschmückten Turm Der Jungfrau flankiert. Den Abschluss bildete
der Turm Der Alten mit seiner Kugel aus schwarzem Obsidian. Die zusätzliche Höhe des Felsens, auf dem sich der Tempel befand, erhob sie weiter in den blauen Himmel als selbst die hohen, schneeweißen Wolken im Süden. Kaeritha gab sich für einen Augenblick der Fantasie hin, wie diese Türme wohl gegen den Nachthimmel wirken mussten, wenn der silberweiße Glanz von Lillinaras Firmament ihre Steine erleuchtete. Quaysar war längst nicht der größte Tempel dieser Göttin, den Kaeritha gesehen hatte. Doch seine Lage und besondere Bedeutung verliehen ihm eine Majestät und Ausstrahlung, der kaum ein anderer Tempel gleichkam, den sie kannte.
Als sie sich weiter näherte, verblasste diese Fantasie der Türme, wie sie im kühlen, strahlenden Licht vor dem sternen übersäten Himmel glühten, und ein eisiger Hauch berührte ihr Herz. Nicht das silberne Licht der Lady umhüllte diese Türme oder die Mauern, die im warmen Licht des frühen Nachmittags leuchteten, was sicherlich kein anderer Mensch bemerkt hätte. Aber Kaerithas Sehkraft entsprach auch nicht der eines gewöhnlichen Sterblichen. Sie ERKANNTE, was andere nicht wahrnehmen konnten. Jetzt presste sie die Lippen zusammen, als sie das unheilvolle, giftgrüne Flackern in ihren Augenwinkeln bemerkte.
Dieses widerliche Grün kannte sie. Sie hatte es früher bereits ERKANNT, und sie erinnerte sich an einen verregneten Tag in Baron Tellians Bibliothek, als sie ihm erzählt hatte, wie unglücklich vertraut die Paladine des Tomanâk mit der Anwesenheit des Dunklen waren.
Sie holte tief Luft, schaute zum Tempel hinauf und versuchte, die Quelle dieses flüchtigen grünen Flackerns auszumachen. Doch es gelang ihr nicht, sie biss die Zähne zusammen. Jeder von Tomanâks Paladinen nahm das Böse Wirken der Dunklen Götter auf eine andere, einzigartige Art und Weise wahr. Bahzell erhielt seine »Gefühle«, einen Eindruck von Dingen, die er zwar nicht genau sah, aber irgendwie »wusste«.
Ein anderer Paladin, den sie kennen gelernt hatte, folgte der Musik, die ihn führte. Kaeritha jedoch ERKANNTE es, wie einige Magier, mit denen sie sich darüber unterhalten hatte. Für sie war es ein Spiel aus Helligkeit und Schatten, aus LICHT und DUNKEL. Diese innere Wahrnehmung, ihre VISION, hatte sie noch nie im Stich gelassen oder irregeführt, doch heute blieb die Bedeutung dessen, was sie ERKANNTE
undeutlich. Sie konnte es nicht klar sehen, konnte nicht einmal sicher sein, dass diese grünen Lichtreflexe, die am Rand ihres Sichtfeldes tanzten, tatsächlich vom Tempel kamen, und nicht etwa aus der Stadt, die sich darunter drängte.
Das sollte eigentlich nicht geschehen. Schon gar nicht, wenn sie bereits von ihrem Verdacht und früheren Nachforschungen vorgewarnt war. Der verräterische Glanz des Bösen sollte für sie eindeutig zu ERKENNEN sein, es sei denn jemand oder
etwas mit einer ungeheuren Macht
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