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Die dunkle Macht des Mondes

Die dunkle Macht des Mondes

Titel: Die dunkle Macht des Mondes
Autoren: Susan Krinard
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Augen waren durchdringend, fast schonungslos, so viel Verständnis zeigten sie. “Was ist geschehen, Dorian? Warum glauben Sie, dass Sie es verdient haben zu leiden?”
    Er stand auf. Sein Mund war fast zu trocken, um zu sprechen. “Sie setzen zu viel voraus.”
    “Ich kann sehen, dass Sie sich selbst bestrafen, indem Sie hier leben, sich menschlicher Gesellschaft verweigern und kaum etwas essen. Hält Sie nur noch Ihre Sorge um Walter am Leben?”
    Dorian schloss die Augen. Er konnte spüren, wie es näher kam. Vollkommene Dunkelheit zu einer Zeit, in der die meisten
Strigoi
frei herumliefen und ihre Macht feierten.
    Für ihn war es eine Art Tod. Ein zeitlich begrenzter Tod, der ihn nie ganz mit sich riss, sondern ihn überleben ließ, damit er sich noch einen weiteren Tag lang selbst verachten konnte.
    Oh, ja. Er glaubte an die Hölle.
    “Es kann nicht so schlimm sein, wie Sie es sich vorstellen”, sagte sie.
    Plötzlich stand sie neben ihm, ihre Wärme liebkoste seine kalte Haut, und ihr Atem strich sanft in seinen Ohren. “Sie haben es geschafft, Hell’s Kitchen zu entkommen. Sie haben etwas aus sich gemacht, oder etwa nicht? Aber Sie haben irgendwo einen falschen Weg eingeschlagen. Und jetzt glauben Sie, dass Sie nicht mehr zurückkönnen.”
    Er musste alle seine Selbstdisziplin aufbringen, um nicht auf den Lockruf des Blutes in ihren Adern zu reagieren, auch wenn der Duft ihres Körpers ihm verriet, dass sie reif war, genommen zu werden.
    “Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen”, fragte er leise, “dass ich nicht ganz bei Verstand bin?”
    “Sie meinen wegen dem, was gestern geschehen ist?”
    Er lehnte sich von ihr zurück. “Ja.”
    “Wenn Sie mir wirklich hätten wehtun wollen, dann hätten Sie eine Menge Gelegenheiten dazu gehabt.” Ihre unerbittliche Stimme hämmerte auf ihn ein wie eine Salve Gewehrschüsse. “Was auch immer Sie getan haben und was auch immer Sie erlebt haben, Sie wollen es wiedergutmachen. Aber zuerst müssen Sie wieder in die Welt hinausgehen und sich ihr stellen – und auch sich selbst.”
    Die Muskeln in Dorians Körper erschlafften. Irgendwie blieb er dennoch aufrecht stehen. “Woher habe Sie den Glauben an Ihre Mitmenschen?”, flüsterte er.
    “Von meinem Vater. Er hat während seiner Zeit als Reporter eine Menge schreckliche Dinge gesehen, aber er hat nie seinen Glauben an das Gute im Menschen verloren.”
    Im Menschen.
Aber ich bin kein Mensch. Das kann ich nie wieder sein.
    Mit übertriebener Sorgsamkeit nahm er Gwen das Buch aus den Händen. “Ist das eine Angewohnheit von Ihnen, jeden Landstreicher, dem Sie begegnen, retten zu wollen?”
    “
So
gut bin ich nicht.” Sie nahm ihren Korb. “Sollen wir den zu Walter bringen?”
    Dorian war erleichtert über den Themenwechsel. “Er hat sich am frühen Nachmittag nicht wohlgefühlt. Wenn Sie den Korb vielleicht bei mir lassen würden …”
    “Natürlich. Kann ich sonst noch etwas tun?”
    “Nein. Ein alter Mann neigt zu Unpässlichkeiten. Er wird sich wieder erholen.”
    Die Wärme in ihren Augen nahm zu. “Ist es
Ihre
Angewohnheit, jeden Landstreicher, dem Sie begegnen, retten zu wollen? Die meisten Menschen würden sich nicht um einen obdachlosen alten Mann kümmern.”
    “Warum kümmern Sie sich um mich?”
    Seine Frage verschlug ihr für einen seltenen Augenblick die Sprache. Sie zog am Saum ihres Jacketts. “Ist es zu schockierend, wenn ich sage, dass ich Sie mag?”
    “Sie haben keinen Grund, mich zu mögen.”
    “Muss ich denn einen haben?”
    “Ich mache mir Gedanken um Ihr Urteilsvermögen, Miss Murphy.”
    “Lassen Sie das nur meine Sorge sein.” Sie schob sich ihre rostfarbenen Locken aus der Stirn. “Ich würde gern noch bleiben, aber ich habe heute Abend einen Termin. Ich komme morgen Nachmittag wieder, mit etwas Kleidung und einigen anderen Dingen, die Sie vielleicht gebrauchen können.”
    All die Kaltblütigkeit, die Dorian in seiner Arbeit für Raoul so sehr geholfen hatte, all die Leidenschaftslosigkeit, die er in sich hatte wachsen lassen, nützte ihm jetzt überhaupt nichts. Er hätte genauso gut wieder ein Kind sein können, das weinend in einer Ecke saß, weil seine Mutter gestorben war und der Vater es nicht für nötig hielt, seine eigenen Kinder zu trösten.
    Er hatte sich noch nie so unendlich erschöpft gefühlt.
    “Ich bitte Sie noch einmal, sich fernzuhalten”, sagte er.
    “Ich gebe niemals etwas auf, sobald ich einmal begonnen habe”, sagte sie, “und ich habe
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