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Die dunkle Macht des Mondes

Die dunkle Macht des Mondes

Titel: Die dunkle Macht des Mondes
Autoren: Susan Krinard
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Gesicht war ausdruckslos, und unter ihrer Haut floss ihr Blut gleichmäßig dahin.
    “Kann ich Ihnen helfen?”, fragte sie. Er antwortete nicht. Sein Mund weigerte sich, die Wörter zu bilden. Er starrte ihr in die Augen, bis sie ihren Blick abwendete, und schritt dann an ihrem Schreibtisch vorbei den Korridor hinab.
    Niemand hielt ihn auf. Die Türen sahen alle gleich aus, aber seine Schritte zögerten nicht. Er wusste, wo sie sich versteckte.
    Er blieb am Ende des Korridors stehen. Seine Zunge war vor Durst angeschwollen, und seine Augen brannten wie heiße Kohlen in seinem Schädel. Er legte seine Hand auf die Tür. Sie schwang geräuschlos auf.
    Sie saß in einem Stuhl neben dem Bett, die Hände im Schoß gefaltet. Ihr Kinn war auf ihre Brust gesunken. Der Mann im Bett schnarchte leise. Keiner von beiden hatte gehört, wie er den Raum betrat. Er trat an die Bettkante und sah hinab ins Gesicht des alten Mannes. Er war unwichtig. Er drehte sich um und starrte die Frau an. Hunger und Begehren tauchten das Zimmer in Schwarz und Rot.
    Er ging um ihren Stuhl herum und stellte sich hinter sie. Er würde so schnell zuschlagen, dass sie nicht einmal aufwachen konnte, ehe er fertig war.
    Aber er zögerte, erstarrt durch etwas in ihm, dass er nicht benennen konnte. Seine Hände schwebten über ihren Schultern. Er senkte den Kopf. Seine Lippen entblößten seine Zähne.
    Ein schneller Biss würde sie betäuben. Ein weiterer ihr das Leben nehmen.
    Oder sie zu seinesgleichen machen …
    Stimmen drangen zu ihm, direkt vor der Tür unterhielten sich Menschen. Er ließ von dem Mädchen ab und sprang zurück. Hier waren zu viele Sterbliche, zu viele, um sie alle umzubringen. Mit einem Knurren rannte er zum Fenster und riss es brutal auf. Er sprang gerade hinaus, als die fremden Menschen die Tür öffneten und eintraten.
    Danach rannte er. Sterbliche waren überall, aber der Duft
ihres
Blutes machte ihn krank. Er erreichte das Flussufer, ohne einen einzigen Tropfen zu sich genommen zu haben.
    Er rannte ins Lagerhaus, griff sich eine Holzkiste und schleuderte sie durchs ganze Gebäude. Er schlug die Wände seiner Behausung zu Splittern, zerriss dann die Decken, bis nur noch Fetzen übrig waren. Erst als er alles in seiner Reichweite zerstört hatte, brach er, gegen die Wand gelehnt, zusammen. Seine Muskeln schienen sich zu verflüssigen, und er sank in die Dunkelheit hinab.
    Als er seine Augen öffnete, fiel schwaches Licht durch den Türrahmen des Lagerhauses. Dorian fuhr mit einer Hand über sein Gesicht und schluckte den fauligen Geschmack auf seiner Zunge hinunter.
    Dann erinnerte er sich. Die Details waren zwar verschwommen, als würde er sie durch einen blinden Spiegel betrachten, aber er erinnerte sich an genug.
    Er richtete sich mit den Händen an der Wand auf und probierte, ob seine Beine ihn hielten. Er war danach immer schwach. Es war der kleine Preis, den er für seinen Wahnsinn zahlte. Andere zahlten viel mehr.
    Die Leiche lag, wo er sie zurückgelassen hatte, den Kopf in einem unmöglichen Winkel zur Seite geneigt, die Arme verdreht, den Hals aufgerissen. Es gab erstaunlich wenig Blut. Javiers Gesicht war unberührt und immer noch gut aussehend, sogar im Tod.
    Dorian wendete sich ab und würgte. Nichts kam hoch. Er war leer, am Rande der Übelkeit, die das Verhungern mit sich brachte. Er genoss die Krämpfe in seinem Bauch und das Feuer, das unter seiner Haut brannte. Es war kaum eine ausreichende Strafe für die Dinge, die er an diesem Neumond begangen hatte, oder in all den Jahren zuvor.
    Er kniete sich hin und schloss Javiers Augen mit einer Handbewegung. Er würde die Leiche beseitigen müssen, ehe irgendjemand anders sie entdeckte. Wenn er sie in den Fluss warf, würden die Menschen nur einen weiteren Anschlag der Mafia vermuten.
    Sie wären nicht weit von der Wahrheit entfernt.
    Dorian ließ Javier liegen, wo er war, und wanderte im Lagerhaus herum. Nicht eine einzige Kiste war ganz geblieben. Alles, was beweglich war, war zerbrochen, zerrissen oder zerschmettert. Nirgendwo war Walters Bett zu sehen, oder etwas von den kleinen, wertvollen Erinnerungsstücken, die er auf seinen Besuchen auf Müllhalden und Schrottplätzen gesammelt hatte.
    Es war nicht der Kampf mit Javier gewesen, der das hier angerichtet hatte. Dorian war durchgedreht, nachdem er von seiner erfolglosen Jagd zurückgekehrt war, blind vor Wut und Lust. Er war nicht damit zufrieden gewesen, den nächsten Menschen zu finden und ihn in einer der
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