Die dunkle Muse
Fotografen einen weiteren Bierkrug auf den
Tisch stellte. Er gab ihr ein paar großzügig abgezählte Münzen, tätschelte salopp
ihren Hintern, worauf er sich eine Ohrfeige einfing, und schlürfte danach den Schaum
vom Rand des Kruges. Dies alles tat er mit schlichtester Unbefangenheit. Zu Julius
gewandt, meinte er fast vorwurfsvoll: »Sei dir bewusst, dass du nicht unbelastet
an den Fall herangehen wirst.«
»Wie meinst
du das?«
»Die ersten
Eindrücke, die in der Kriminalistik maßgeblich sind, stammen einzig und allein aus
dem Mordfall selbst. Sie sind in Tatsachen, nicht in Gefühlen begründet. Tatsache
ist, dass Lene Kulm tot ist. Tatsache ist, dass sie erstochen wurde. Tatsache ist,
dass Professor Goltz mit blutverschmiertem Messer am Tatort aufgefunden wurde. Unser
Gefühl sagt uns, dass er der Mörder sein muss. Aber lässt sich das beweisen? Es
lässt sich nicht leugnen, dass die Staatsanwaltschaft einfach überzeugt sein muss,
dass er es ist. Dieses Müssen, dieses kategorische Müssen, bereitet mir Sorge.«
»Du denkst,
die Lösung ist zu offensichtlich?«
»Genau!
Die Polizei nimmt viel zu oft das Augenscheinliche als die Wahrheit an. Es ist nicht
einzusehen, weshalb man eine komplizierte Antwort suchen soll, wenn einem die lückenlose
Aufklärung mitten ins Gesicht springt. Trotzdem wäre mir persönlich eine verzwickte
Lösung lieber. Eine sensationelle Wende ist befriedigender als reine Routinearbeit.«
»Ich werde
deinen Rat beherzigen, Albrecht. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Das hoffe
ich. Das hoffe ich sehr.«
Achtes Kapitel
Am 4. August 1865 fand der
erste Verhandlungstag im Mordfall Kulm statt. Als Gerichtsort diente das Kollegienhaus
der Königlichen Justizverwaltung, ein prächtiger Barockbau, der vor etwas mehr als
130 Jahren von Philipp Gerlach entworfen worden war, dem berühmten Architekten der
Potsdamer Garnisonskirche. Einige Räume des Gebäudes belegte das Preußische Kammergericht
für die Kurmark Brandenburg. Julius Bentheim hatte sich frühzeitig eine Droschke
besorgt und kam gegen 7 Uhr vor dem zweigeschossigen Flügelbau an. Er bezahlte den
Kutscher und schritt auf den Hauptbau zu. Über dem Portal befand sich ein dreieckiger
Giebel, der das Staatswappen sowie zwei allegorische Figuren zeigte: die Gerechtigkeit
und die Weisheit. Der Zeichner trat durch das Portal, erfragte sich den Weg zu Gideon
Horlitz und nahm eine Marmortreppe in den ersten Stock.
Den Kommissar
fand er nicht, dafür aber einen Gerichtsdiener, der bereits zwei mit Zeichenblöcken
und Stiften versehene Männer im Schlepptau hatte. Kurzerhand schloss sich Bentheim
der Gruppe an. Sie wurden in eine Kammer geführt, die sich als Nebenraum zum Gerichtssaal
entpuppte. Der Diener öffnete einen Schrank, der mit Zeichenmaterial vollgestopft
war, und meinte trocken zum Neuankömmling: »Bedienen Sie sich.«
Julius wählte
ein paar angespitzte Stifte, ein Messer und einen Block mit Papier, dessen Dicke
ihm zusagte. Danach wies der Diener ihn und die zwei anderen an, vor ihm Aufstellung
zu beziehen. Die drei Zeichner wurden nach ihren Papieren gefragt. Der Gerichtsdiener
überprüfte die Dokumente, trug ein paar Notizen in ein Heft ein und gab die Papiere
zurück. Dann sagte er eine kurze Eidesformel auf und bat die Männer, sie zu wiederholen.
Sie hoben
die Hand und schworen.
»Nun, da
Sie vereidigt sind, werde ich Ihnen Ihre Plätze zuweisen, meine Herren.«
Er betrat
den Gerichtssaal, deutete auf einen Nischensitz in der Nähe der Geschworenenbank
und wies diesen dem ersten Mann zu. Ein zweiter Stuhl, von welchem aus man hauptsächlich
den Zuschauerbereich überblickte, wurde dem anderen zugeteilt. Bentheim kam unweit
des Platzes zu sitzen, an dem während der Verhandlung ein Stenotypist das Geschehen
dokumentieren sollte. Er war glücklich über die Wahl, denn hier hatte er gute Sicht
auf die Bänke von Verteidigung und Anklage, während auch das Richterpult uneingeschränkt
zu sehen war.
Der längliche
Saal besaß Deckenbalken und gekalkte Mauern. Die Wand hinter Bentheims Rücken war
mit einem halben Dutzend Fenster versehen, die den Raum erhellten. Wenn man vom
Flur her eintrat, bot sich einem ein Bild, das an das Innere einer Kirche erinnerte.
Rechts und links gab es unzählige Reihen mit Bänken, auf denen Zuschauer Platz nehmen
konnten. Das vordere Drittel des Raums wurde von einer Absperrung abgetrennt. Dahinter
folgte der Bereich der Anwälte, zur Rechten jener der Geschworenen, zur
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