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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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Linken der
der Protokollanten und weiterer Gerichtsbüttel. Ähnlich wie bei einem Abendmahltisch
samt Hochaltar befanden sich an der Front die erhöhten Pulte des Hauptrichters und
seiner zwei Gehilfen, welche im Hintergrund von einem schwarz-weiß-roten Wappen
mit schwarzem Adler, Hohenzollernkrone und gekreuzten Klingen überragt wurden.
    Nach und
nach füllte sich der Saal. Tratschende Weiber in billiger Arbeitstracht drängten
herein; einige Tagelöhner, die von der Neugier getrieben wurden, suchten sich ihre
Plätze aus. Nur wenige Leute aus der gehobenen Bürgerklasse waren anwesend. Bentheim
zählte lediglich ein Dutzend Personen, deren äußeres Erscheinungsbild darauf schließen
ließ, dass sie begütert waren. Zu seinem Erstaunen erblickte er inmitten der Zuschauer
einen Mann, den er nicht erwartet hatte. Er trug gewöhnliche Alltagskleidung ohne
die Insignien der Macht, sodass er völlig unauffällig aussah, doch Julius erkannte
ihn sofort. Es war Moritz Bissing, der Kommissar, der als Erster mit seinen Leuten
am Tatort eingetroffen war, eine hagere Erscheinung, aber nicht auf ungesunde Art,
sondern eher im athletischen Sinn. Sein Backenbart war peinlich genau gestutzt,
seine braunen Haare erst neulich auf die Kürze einer Daumenbreite geschoren. Aus
seiner Hemdtasche lugte eine Billigausgabe des ›Fasses Amontillado‹ von Edgar Allan
Poe, die er wohl eingesteckt hatte, um die Zeit zu überbrücken. Beinah unmerklich
nickte er Bentheim zu, welcher mit einer Bewegung des Kopfes zurückgrüßte.
    Eine weitere
halbe Stunde verging, bis nacheinander die Anwälte beider Seiten durch eine Nebentür
den Raum betraten. In ihrem Gefolge führten zwei Schutzmänner den Angeklagten herein,
der in vornehme, aber dennoch schlichte Garderobe gekleidet war. Seinen Kopf hielt
er gesenkt, in der Hand führte er ein Buch mit sich, auf dessen Deckel groß und
für alle sichtbar ein Kreuz prangte. Ein Raunen ging durch den Saal, doch der Professor
schien es nicht zu bemerken. Er setzte sich, ganz in Gedanken versunken, neben seinen
Verteidiger auf den Stuhl des Angeklagten und faltete die Hände zum Gebet. Der entschlossene
Gesichtsausdruck, den Julius in der Mordnacht noch an ihm ausgemacht hatte, war
vollends verschwunden. Als sein Anwalt ein paar Worte an ihn richtete, zuckte er
eingeschüchtert zusammen. Klein und unscheinbar wirkte der Mann nun, mit schüchternem
Blick. Es war ein kitschiges Bild, das dadurch evoziert wurde, doch der rothaarige
Professor erinnerte tatsächlich an ein Rehkitz.
    Indem er
mehrmals mit einem Holzstab auf den Boden klopfte, verschaffte sich ein Gerichtsdiener
Gehör. Der Lärmpegel senkte sich, die Anwesenden verstummten. Als Ruhe eingekehrt
war, kündete der Mann die Richter an und bat die Menge, sich zu erheben. Eine weitere
Nebentür öffnete sich und drei ehrwürdig einherschreitende Männer in langen Ornaten
und mit Lockenperücken betraten den Raum. Sie steuerten auf die Richterpulte zu,
stiegen die drei Stufen zu ihnen empor, zogen die Stühle hervor und platzierten
diese hinter sich. Wie mit eingeübter synchroner Bewegung ließen sie sich nieder.
Der Richter in der Mitte legte viel Gepränge an den Tag. Er trug drei Abzeichen
an der Brust: den Hohen Orden vom Schwarzen Adler, das Eiserne Kreuz und den Stern
zum Großkreuz mit Eichenlaub und Schwertern. Mit einem Hammer schlug er auf eine
runde Unterlage und befahl mit scharfer Stimme, die schwerlich einen Widerspruch
zuließ: »Setzen Sie sich.«
    Alle nahmen
wieder Platz.
    Der Gerichtsdiener
trat an die Seite des Richterpults, um ein Dokument zu verlesen: »In der Verhandlungssache
›Das Königreich Preußen gegen Professor Botho Goltz‹ führt der ehrenwerte Herr Richter
Johann von Jänert den Vorsitz. Beisitzer sind die ehrenwerten Herren Richter Emil
Polte und Ernst von Lipinsky. Untersuchungsrichter war Herr Karl Otto von Leps.
Die Sitzung ist hiermit eröffnet.«
    Richter
Jänert übernahm das Wort. Er ließ sich von einem der Beisitzer eine Liste aushändigen
und rief die Namen der Zeugen auf. Für Bentheim gab es dabei keinerlei Überraschungen,
denn geladen hatte man Gregor Haldern, den Geliebten des Opfers, seine Nachbarin,
die Witfrau Bettine Lützow, sowie die Mitglieder von Polizei und Schutzmannschaft,
die als Erste vor Ort eingetroffen waren. Die Aussagen von Kommissar Bissing und
Untersuchungsrichter Leps waren schriftlich festgehalten worden; der Pathologe Virchow
sollte als Zeuge der Anklage auftreten. Als die

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