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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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auf
die sommerliche Hitze schieben würde.
    »Ich habe
den Schlussfirnis vergessen«, flunkerte er und hob eine kleine handliche Dose mit
Dammarharz hoch, die er extra mitgebracht hatte. »Den muss ich noch auftragen, damit
die Kohle und das Grafit konserviert bleiben. Sonst habe ich die Zeichnungen vergebens
gemacht.«
    »Schon gut,
schon gut.« Der Gendarm beugte sich über ein blechernes Sprechrohr, das aus der
Tischplatte ragte und weiter unten im Boden verschwand, und sprach hinein: »He,
Alexander, ich schicke dir einen Zeichner hinunter. Sei so gut und bereite schon
mal die Unterlagen zum Selbstmord Hackeborn vor.«
    Dumpf erklang
die Antwort aus dem Rohr und der Mann am Schalter gab Bentheim ein zustimmendes
Zeichen und meinte: »Melden Sie sich bei Herrn Dresky.« Mit freundlichem Kopfnicken
verabschiedete sich Julius und machte sich auf den Weg in die Asservatenkammer im
untersten Geschoss des Gebäudes. In den düsteren und abweisenden Räumlichkeiten
reihten sich Aktenschränke aneinander und zellenartige Abteile waren mit Gittern
voneinander getrennt. Hinter einem schmutzigen Bürotisch saß ein feister Polizist,
eine aufgeschlagene Zeitung vor sich und ein mit Thunfisch belegtes Stück Brot in
der Hand.
    Zwischen
mehreren schmatzenden Kaulauten vernahm Bentheim die Aufforderung, seinen Namen
in ein Buch einzutragen, das auf dem Tisch lag.
    Er griff
nach Feder und Tinte und unterschrieb.
    »Na, Bursche,
dann komm mal mit«, sagte der Dicke, als er schwerfällig aufstand und die fettigen
Hände an der Hose abwischte.
    Sie gingen
in eine kleine Nebenkammer, wo der Mann Bentheim anwies zu warten. Wenig später
kam er keuchend zurück und stellte eine lose verschnürte Schachtel auf den Tisch.
Während der Polizist sich zurückzog, nahm der Zeichner den Deckel ab und sah sich
die Akten durch. Er machte sich nicht einmal die Mühe, Pinsel und Spachtel bereitzulegen
oder die Dose mit dem Harz zu öffnen.
    Julius überflog
die Seiten. Anscheinend hatte man nur das Nötigste in die Akte aufgenommen. Alles
war von einem Untersuchungsrichter genehmigt und im Schnellverfahren abgesegnet
worden. Der amtliche Stempel trug als Datum den 17. Juli. Seine eigenen Zeichnungen
bildeten den Hauptteil der Akte, während der Polizeibericht lediglich aus ein paar
Notizen bestand. Außerdem war der Abschiedsbrief des Selbstmörders beigelegt worden.
Bentheim vertrödelte keine Zeit damit, ihn zu lesen. Stattdessen überflog er die
Messdaten, auf deren Grundlage er die Tatortskizzen angefertigt hatte, und verglich
sie mit seinen Werken. Sie stimmten maßstabsgerecht überein. Ausnahmslos.
    Und dennoch
erschien ihm die Perspektive tatsächlich irgendwie verkehrt oder zumindest falsch
gewählt zu sein. Der Gedanke, der beim Betrachten der Bilder in ihm aufkeimte, war
nicht zu fassen. Wie ein Schmetterling flog er durch seinen Kopf und der Schlag
seiner Flügel hinterließ wellenartige Erschütterungen, die noch zu schwach waren,
um im selben Augenblick begriffen zu werden. Bentheim vergewisserte sich, dass der
Archivar außer Sichtweite war, und steckte eines der Blätter ein. Danach übertrug
er die Messdaten in einen Block, deponierte alles wieder in der Schachtel und stülpte
den Deckel darauf.
    Erst als
er sich schon verabschiedet und die Kammer wieder verlassen hatte, wurde ihm sein
Glück bewusst, dass das Verwahrstück im Fall Hackeborn keine Inventarliste aufwies.
Erstaunt schüttelte er den Kopf. Und dass der Gendarm am Empfang keine Ahnung davon
hatte, dass Grafitzeichnungen keinen Firnis benötigten, hob zudem seine Stimmung.
Fröhlich pfeifend verließ er das Palais Grumbkow und lenkte seine Schritte zum Kollegienhaus
der Königlichen Justizverwaltung.
     
    Der zweite Gerichtstag im Mordfall
Kulm wurde von dem ehrenwerten Herrn Richter Jänert in gewohnter Manier eingeläutet.
Zusammen mit den Beisitzern Polte und Lipinsky betrat er den Saal und benutzte ausgiebig
den Hammer auf dem Richterpult, um für Ruhe zu sorgen. Von seinem Platz aus erschien
er Julius wie ein Dirigent, der den Taktstock schwingt, um seinem Orchester den
Einsatz anzuzeigen. Jänert strahlte ehrwürdige Ruhe und Erhabenheit aus – ein Bild,
das Bentheim mit wenigen Kohlestrichen festzuhalten gedachte.
    »Meine Herren«,
begann Johann von Jänert, »das Hohe Gericht hat in seiner letzten Sitzung dem Antrag
der Verteidigung stattgegeben, neue Zeugen aufzubieten. In der Folge hat das Hohe
Gericht bereits eine Liste dieser Zeugen zugestellt bekommen

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