Die dunkle Muse
Koordinatenmuster zu weit nach hinten platziert.«
»Das habe
ich nicht. Du weißt, wie exakt ich arbeite. Und die Maße stimmen. Ich habe die Daten
überprüft.«
»Hast du
sie noch?«
»Ja, ich
habe sie aufgeschrieben.«
»Zeig her.«
Bentheim
zog den Notizblock aus seiner Brusttasche und reichte ihn seinem Freund. Dieser
las leise vor: »Innenhöhe der Laube: drei Meter. Lage des Todesopfers Viktor Hackeborn:
45 Zentimeter über Grundniveau des Fußbodens. War der Tote groß?«
»Dutzendware.«
»Gut, nehmen
wir also an, er maß 1 Meter 70. Als Maler kennst du die Grundregel, dass die Länge
eines Menschen seiner siebenfachen Kopflänge entspricht. Folglich war sein Kopf
geschätzte 25 Zentimeter lang. Die Schlinge um seinen Hals befand sich demnach auf
einer Höhe von 1 Meter 90, natürlich vom Boden aus gemessen. Das bedeutet, sein
Seil spannte sich von der Decke bis zum Hals über eine Länge von 1 Meter und 10
Zentimeter. Sehe ich das richtig?«
Julius nickte.
»So habe ich es auch vermerkt. Außerdem liegt die Sitzfläche des Stuhls, den er
unter den Füßen weggestoßen hat, auf einer Höhe von 45 Zentimetern. Es passt perfekt
zusammen.«
Krosick
runzelte die Stirn.
»Hast du
jemals einer Strangulation beigewohnt, Julius? Als Kind habe ich miterlebt, wie
ein Todesurteil an einem Mörder öffentlich vollstreckt wurde. Den Kerl positionierte
man auf einem Pferdekarren, den man unter den Galgen geschoben hatte. Als der Wagen
wegfuhr, spannte sich der Strick ganz gemächlich. Der Verurteilte erstickte mit
quälender Langsamkeit. Sein Gesicht lief blau an, die Augäpfel quollen hervor. Es
dauerte fast eine halbe Stunde, bis er tot war. Eine unglaublich schreckliche Bestrafung.«
»Die meisten
Todesarten sind schrecklich.«
»Da magst
du recht haben. Aber Erhängen geht nun einmal so vor sich, dass der Lebensmüde fallen
muss. Hast du verstanden, Julius? Er fällt. Je tiefer man fällt, desto stärker die
Wucht, wenn sich die Schlinge zuzieht. Ein Genickbruch wird angestrebt. Kurz und
schmerzlos.«
»Verstehe.«
»Nein, das
tust du eben nicht. Dieser Hackeborn stand auf einer Höhe von 45 Zentimetern auf
einem Stuhl, um seinem Leben ein Ende zu bereiten, und nachdem er ihn weggestoßen
hat, baumelt der Selbstmörder noch immer auf einer Höhe von 45 Zentimetern. Wieso
hat sich das Seil nicht in die Länge gezogen?«
»O mein
Gott!«, entfuhr es Julius. »Jemand muss ihn nachträglich dort aufgeknüpft haben.«
Der Fotograf
lehnte sich zurück und nickte versonnen.
»Wir müssen
Kommissar Horlitz benachrichtigen«, meinte er endlich.
»Nein, Moritz
Bissing bearbeitet den Fall.«
»Hast du
Zeit?«
»Ein paar
Stunden.«
Die beiden Freunde hatten Glück.
Sie trafen Bissing, als er gerade das Palais Grumbkow verlassen wollte. Unter dem
Arm trug er eine Aktenmappe sowie mehrere Bände, die Julius ihrem Rückenaufdruck
nach unschwer als ›Die Elenden‹ von Victor Hugo erkannte. Kurz und sachlich fassten
sie ihre Mutmaßungen zusammen und baten den Kommissar um Unterstützung.
»Ich werde
der Sache nachgehen«, versprach er halbherzig. »Jetzt bin ich in Eile. Sie hören
von mir, meine Herren.«
Er schwang
die Tür auf, lief auf die Straße und winkte eine Droschke heran.
Verblüfft
blieben Krosick und Bentheim zurück.
»Ein Bier?«,
schlug der Fotograf schließlich vor.
»Keine schlechte
Idee.«
»Wie sagt
doch der Volksmund? Gerstensaft und stramme Weiber sind die besten Zeitvertreiber!«
Sie riefen
ebenfalls nach einem Kutscher und ließen sich nach kurzer Beratung zum Gendarmenmarkt
fahren. Es war gerade Markttag und sie schlenderten durch das Volksgewühl, bis sie
einen Verkaufsstand mit Bierkrügen fanden. Bei dem Prachtbau, in dessen Eckfenster
einst E. T. A. Hoffmann die Behausung einer seiner Figuren angesiedelt hatte, ließen
sie sich nieder und prosteten einander zu. Erst am späten Nachmittag kehrten die
Freunde von ihrem Ausflug zurück. Der kleine Briefträger, den Julius auf so großzügige
Weise entlohnt hatte, stand wieder vor dem Haus der Witwe Losch und wartete auf
sie.
»Schau dir
nur diesen Knirps an«, meinte Albrecht. »Wetten, deiner Filine hat er ein noch größeres
Trinkgeld abgeschwatzt.«
»Abgelehnt.
Diese Wette würdest du locker gewinnen.«
Sie lachten,
doch je näher sie kamen, desto offenkundiger wurde das erregte Gesicht des Jungen.
»Na, Kleiner,
was bedrückt das Herz?«, sprach ihn der Fotograf an.
Mit einer
nahezu trostlosen Geste zupfte der
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