Die dunkle Muse
Knabe Julius am Arm. »Es tut mir leid, mein Herr«,
sagte er mit stockender Stimme. »Sie waren nicht anwesend und ich konnte Sie nicht
benachrichtigen.«
»Was ist
denn los? Kann Fräulein Sternberg heute Abend nicht kommen?«
»Ich glaube,
sie wird auch später nicht mehr kommen können«, schluchzte er.
Bentheim
und Krosick wechselten einen Blick.
»Schnell,
was ist passiert?«
»Der Pastor
weigerte sich, mich einzulassen. Also bin ich geraume Zeit vor dem Haus auf und
ab gegangen, um eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Plötzlich geht die Haustür
auf und der Pastor tritt auf die Straße. Er sah aus, als ob alle Teufel hinter ihm
her gewesen seien. Ungelogen, mein Herr. Sein Kopf war rot wie ein gekochter Hummer
und Gottes heiliger Zorn pochte hinter seinen Schläfen. Er schubste mich zur Seite,
gab einen ziemlich unchristlichen Fluch von sich und hastete davon.«
»Und was
geschah dann?«, wollte Albrecht atemlos wissen.
»Fräulein
Sternberg kam aus dem Haus geeilt, gefolgt von einer älteren Dame. Sie waren sehr
nett zu mir, obwohl beide sehr erregt waren. Das junge Fräulein hat mir 100 Silbergroschen
versprochen, wenn ich dem Pastor folge, ihn überhole und Sie warne, mein Herr. 100
Silbergroschen – stellen Sie sich das vor, das sind mehr als drei Taler!«
»Herrgott,
wir wissen, wie viel 100 Silbergroschen sind!«, fuhr Krosick auf. »Erzähl weiter!
Was geschah dann? Warum war Filine aufgeregt?«
»Wegen den
Büchern«, erklärte der Knabe und schniefte. »Ihr Herr Vater hat anscheinend Romane
entdeckt, die er nicht hätte sehen dürfen.«
»Bücher!
Ach so! Na, Junge, dann sei mal unbesorgt.« Bentheim fiel ein Stein vom Herzen.
Wenn Pastor Sternberg in seiner priesterlichen Verbohrtheit auf die trivialen Erzählungen
gestoßen war, würde er Filine ausschimpfen und sie ein paar Tage mit Stubenarrest
belegen. In spätestens zwei Wochen wird die Aufregung sich gelegt haben, dachte
Julius. Nur schade um den schönen Abend bei den Lewalds. »Albrecht, gib dem Kerlchen
die 100 Silbergroschen. Verdient hat er sie allemal.«
Die Münzen
klimperten laut, als sie in die ausgestreckte Handfläche des Jungen fielen, dessen
Gesicht vor Freude strahlte. Er bedankte sich artig und trollte sich. Krosick wollte
eben nach dem Türgriff greifen, als er von der anderen Seite nach unten gedrückt
wurde. Amalia Losch stand im Vestibül. Sie trug einen ihrer Seidenhüte, doch vermochte
dessen farbiger Glanz diesmal nicht, über ihren porzellanweißen Teint hinwegzutäuschen.
Bestürzt starrte die Alte an Albrecht vorbei.
»Julius«,
stammelte sie, »es tut mir so leid. Der Pastor … Erst wollte er auf Sie warten … Ich … Ich habe … Ich habe ihn … auf Ihr Zimmer, Julius. Er war
in Ihrem Zimmer.«
Die Wirkung
ihrer Worte bestürzten sie. Bentheim wurde schlecht, als er an die Zeichnungen dachte,
die noch immer offen auf dem Boden ausgebreitet waren. Er fühlte, wie die Übelkeit
in ihm hochkroch, wie es ihm vor den Augen flackerte. Ein Schmerz packte ihn, wie
er ihn noch nie gekannt hatte.
»Sie haben
ihn in mein Zimmer geführt?«, wiederholte er tonlos.
Langsam
nickte Amalia, und Julius spürte, wie in ihm eine Welt zerbrach.
Fünfzehntes Kapitel
Teilnahmslos verfolgte der junge
Tatortzeichner die Verhandlung, die wieder aufgenommen worden war. Von Filine hatte
er weder etwas gehört noch ein Billett erhalten und es gab keine Möglichkeit, mit
ihr in Kontakt zu treten. Julius war übermüdet und hatte dunkle Ringe um die Augen.
Immerfort gähnte er, was ihm einen bösen Blick von einem der beisitzenden Richter
einbrachte und ihn zwang, sich endlich zusammenzureißen.
Botho Goltz
– noch immer mit gefärbtem Haupthaar – lehnte in seinem Sessel und ließ die Aussagen
der Mitglieder von Polizei und Schutzmannschaft über sich ergehen. Zum Erstaunen
der Zuschauer nickte er sogar manchmal, als ob er ihnen beipflichten wollte. Die
Männer schilderten, in welchem Zustand sie den Tatort vorgefunden, wie sie ihn gesichert
und wie sie den Professor verhaftet hatten.
»Seine Kleidung
triefte vor Blut«, erklärte Ernst Detlof, einer der Polizisten.
»Haben Sie
versucht, bei dem Opfer lebensrettende Maßnahmen einzuleiten?«, wollte Anwalt Görne
wissen.
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Ich habe
ihren Puls gefühlt. Er war nicht mehr vorhanden. Zuerst wusste ich nicht einmal,
wo an ihrem Hals ich das tun konnte. Da war alles zerfetzt. Schließlich tat ich
es am rechten Arm.«
»Wie verhielt
sich
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