Die dunkle Muse
Messer, jenes blutverschmierte,
jenes längere, jenes schmalere Messer, nach dem man eigentlich hätte suchen sollen,
in Gregor Halderns Diele lag?«
»Einspruch!«,
erscholl es leidenschaftlich.
Der Verteidiger
mit den gefärbten Haaren, der den ehrenwerten Professor Virchow so stiefmütterlich
behandelte, hielt inne. Lebhaft blickte er zum Tisch des Anklägers hinüber und wartete
auf eine Begründung. Mit gleichmütiger Stimme wandte sich der Richter an Theodor
Görne: »Gewähren Sie uns Einblick in die Tiefen Ihrer Überlegungen, Herr Anwalt?«
Görne hüstelte
verlegen. Sein Tisch war eindrucksvoll mit Lehrbüchern und Aktenmappen bedeckt,
mit Schriftstücken, Aktenbündeln und sonstigen Dokumenten aller Art. Er bat um einen
Moment Geduld und durchstöberte seine Unterlagen, bis er eine geheftete Blättersammlung
in den Händen hielt. An ihrem Deckblatt und den Stempeln erkannte sie Bentheim unschwer
als polizeilichen Bericht.
»Ich möchte
darauf hinweisen, dass das besagte Messer – im Gegensatz zu dem beim Angeklagten
vorgefundenen – nicht am Tatort vorhanden war.«
»Nun«, meinte
Heseler verächtlich, »wenn Sie mit Tatort den Flur zwischen den beiden Dachwohnungen
meinen, dann waren beide Messer gleich weit davon entfernt. Genau genommen existiert
das Messer meines Mandanten nicht einmal, da es sich in seiner Wohnung befunden
hat und ergo auf der Liste der nicht als Beweismittel geltenden Fundstücke erscheint.
Es ist erstaunlich, dass der Verlobte des Opfers sie zu ihren Lebzeiten geschlagen
und malträtiert hat und darüber hinaus die einzige infrage kommende Tatwaffe in
seiner Wohnung gefunden wird.«
»Einspruch!«
»Abgelehnt.
Fahren Sie fort, Herr Verteidiger.«
»Eine Handvoll
Fragen an den Pathologen habe ich noch: Herr Virchow, Sie haben die Obduktion einer
weiblichen Leiche vorgenommen, am 14. Juli – stimmt das?«
»Ja, an
diesem Tag habe ich Fräulein Kulm obduziert.«
Heseler
lächelte unverfroren und fuhr fort: »Auf wessen Veranlassung haben Sie eine weibliche
Leiche obduziert?«
»Auf Veranlassung
Kommissar Horlitz’.«
»Wer war
zugegen?«
»Gideon
Horlitz, mein Assistent, ein Polizeifotograf sowie ein Polizeizeichner – und natürlich
Fräulein Kulm«, fügte er selbstherrlich hinzu. Mittlerweile war allen Anwesenden
klar, dass der berühmte Mediziner und der Verteidiger des Professors keine Freunde
mehr würden.
»Fräulein
Kulm war also anwesend. Sehr aufschlussreich. Wer identifizierte die Leiche?«
»Das weiß
ich nicht.«
Finster
dreinblickend, meinte Fabian Heseler: »Keine weiteren Fragen an den Zeugen; er kann
entlassen werden. Jedoch halte ich es zum jetzigen Zeitpunkt der Verhandlung für
angebracht, eine Erklärung meines Mandanten zu verlesen.«
Johann von
Jänert und seine Beisitzer steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich im
Flüsterton. Dann meinte der Hauptrichter: »Fahren Sie fort, Herr Anwalt.«
Mit gewichtiger
Miene überreichte der Professor Herrn Heseler einen versiegelten Briefumschlag.
Dieser erbrach das Siegel, zog ein Blatt Büttenpapier hervor und las vor: »Ich zitiere:
Ich, Professor Botho Goltz, gebe hiermit zu Protokoll, dass ich die am 12. Juli
im Flur vor meiner Dachgeschosswohnung aufgefundene weibliche Leiche nicht kenne.
Es war mir nicht möglich, die Tote eindeutig als Fräulein Magdalene Kulm zu identifizieren,
weshalb davon auszugehen ist, dass Fräulein Kulm womöglich noch unter den Lebenden
weilt. Zitat Ende. Nun, meine ehrenwerten Herren Richter, nach langer und sorgfältiger
Durchsicht der Akten bin ich zum Schluss gekommen, dass es die Anklage versäumt
hat, die Leiche offiziell zu identifizieren. Mein Mandant wird deshalb in den nächsten
Tagen eine Vermisstenanzeige beim hiesigen Gendarmenposten aufgeben.«
»Einspruch!
Es gab die Gegenüberstellung mit Herrn Haldern.«
Bentheim
beugte sich vor. Längst hatte er seinen Zeichenblock beiseite gelegt und verfolgte
das Schauspiel, das ihm geboten wurde.
»Die Gegenüberstellung
mit einem Mann, der laut Protokoll ›verstört war und verschlafen wirkte‹?«
»Gerade
weil er sie identifizieren konnte, war er verstört.«
»Nun muss
aber ich Einspruch erheben, Herr Ankläger. Dies ist pure Spekulation.«
Mit einer
wegwischenden Handbewegung meinte Görne: »Es gibt die Aussage der Nachbarin.«
»Ach, Sie
meinen die gute alte Frau Lützow, die keine zwei Meter weit sieht?«
»Das sind
sophistische Spitzfindigkeiten!«
»Mitnichten,
Herr Kollege«,
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