Die dunkle Muse
er hielt es nicht durch. Erschöpft
sank der Student auf einen Stuhl nieder und ließ den Kopf hängen.
»Sei unbesorgt,
Julius. Es wird sich alles zum Besseren wenden.«
»Sobald
er sie totgeschlagen hat?«
Krosick
schwieg. Er rieb sich das Kinn und starrte leer und ausdruckslos auf die Küchenborde,
wo Töpfe und Tassen standen. Nach einer Weile sagte er unerbittlich: »Wir müssen
kühlen Kopf bewahren. Geh morgen ins Gericht, lenke dich ab. Einstweilen wird mir
schon was einfallen.«
Die Vernehmungen im Fall Goltz versprachen
an Spannung zuzunehmen. Als einer der letzten Zeugen, die von der Anklagevertretung
aufgerufen wurden, trat der Pathologe Virchow auf. Lang und breit dozierte er über
anatomische Befunde, erklärte, was es mit Einstichwinkel und Einstichkanal auf sich
habe und woran Lene Kulm gestorben war.
Albrecht
Krosicks Foto, das er von der abgetrennten Haut von Lene Kulms Bauch angefertigt
hatte, wurde zur Sensation. Ein Raunen ging durch die Menge, als Theodor Görne das
um ein Vielfaches vergrößerte Bild mit Magneten an eine fahrbare Schieferwand heftete,
wie man sie aus Klassenzimmern oder Hörsälen kannte. Es war ein prätentiöser Schachzug,
der Botho Goltz’ Verteidiger zu einem Einspruch veranlasste.
»Völlig
geschmacklos«, warf er ein. »Unterstes Schmierentheater. Um eines billigen Effekts
willen wird die geheiligte Totenruhe gestört und die liebe Verstorbene geschändet.«
Rudolf Virchow
kraulte sich gelassen den Bart, da der Richter für die Vertreter der Anklage entschied,
und beantwortete die Fragen weiterhin sachlich und mit nüchterner Präzision.
Nach der
Mittagspause übernahm Fabian Heseler das Verhör. Sein Haarschopf war noch immer
rot gefärbt, doch hatte die Intensität der Farbe nachgelassen.
»Erzählen
Sie mehr über den medizinischen Befund«, bat der Anwalt des Professors. »Hatte das
Opfer Geschlechtsverkehr, kurz bevor es ermordet wurde?«
»Das Opfer
hatte in der Tat Geschlechtsverkehr.«
»War er
einvernehmlich?«
»Ja.«
Bentheim
sah zu den Geschworenen hinüber. Er war gerade dabei, sie zu malen, als dieser Dialog
stattfand, und musste verärgert feststellen, dass sie ihre Position wechselten.
Saßen die meisten bis dahin gemütlich an das Rückenpolster ihrer Stühle gelehnt,
so beugten sie sich nun vor, die Arme auf das Geländer gelegt oder den Kopf auf
die Hände gestützt.
»Wie lässt
sich das feststellen?«
»Es gibt
bisher wenig medizinische Studien zu diesem Gebiet. Doch jahrelange Erfahrung mit
Vergewaltigungsopfern, sei es mit noch lebenden oder auch mit ermordeten Frauen,
lässt einen Arzt oder Pathologen mit Gewissheit diese Frage beantworten. Bei einer
Vergewaltigung gibt es Schürfwunden, Hämatome, Kratzspuren. An den Innenseiten der
Schenkel, die mit Gewalt auseinandergedrückt werden, finden sich oft Hinweise. Auch
kann es kleine Risse in der Scheidenwand geben. Und natürlich getrocknetes Sperma,
das die Schamhaare verklebt. Wenn sich das Opfer wehrt, können abgebrochene Fingernägel
die Folge sein.«
»All dies
war bei Fräulein Kulm nicht der Fall?«
»Nein.«
»Gab es
sonstige Auffälligkeiten?«
Für die
Dauer eines kurzen Moments blieb Virchow die Antwort schuldig. Dann meinte er: »Das
Opfer wies Hämatome auf.«
»Vom Geschlechtsverkehr?«
»Nein, von
Schlägen.«
»Professor
Goltz hat demnach Frau Kulm geprügelt?«
Rudolf Virchow
schüttelte den Kopf. »Die Hämatome sind älteren Datums.«
Ȁlteren
Datums?«, wiederholte Heseler. Mehr zu sich selbst als zu den Geschworenen sagte
er leise: »Schon die zweite Zeugenaussage, die Herrn Goltz in dieser Hinsicht entlastet …«
Ohne den
Gedanken weiter zu verfolgen, präsentierte er eine Dokumentenmappe und meinte: »Im
Bericht der Staatsanwaltschaft steht, das Opfer habe menstruiert. Ist das korrekt?«
Virchow
nickte.
»Sie müssen
antworten, Herr Doktor. Für das Protokoll.«
»Ja, das
ist korrekt.«
»Weiter
steht hier, dass es nicht zu normalem Geschlechtsverkehr gekommen sei.«
»Auch das
ist korrekt.«
»Es gab
also das, was man einen sodomitischen Akt nennt?«
»Ich halte
den Terminus für unpassend, da er zweideutig ist. Aber, ja – es gab analen Geschlechtsverkehr.«
»Setzt diese
Art von Kopulation nicht ein Mindestmaß an Vertrauen voraus?«
»Ich denke
eher an ein Mindestmaß an Bezahlung«, entgegnete Virchow aufgebracht.
»Hohes Gericht,
ich verlange, dass diese Aussage aus dem Protokoll gestrichen
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