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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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Leinwand ein – so genau war das in meiner
Lage nicht zu erkennen. Der Pastor raste. Er griff nach einer Schere und schnitt
das Porträt – denn ein Porträt war es, ich hatte inzwischen die Umrisse einer Frauenfigur
erkannt – in Stücke. Noch ehe ich mich versah, riss er die Tür auf, sodass er beinah
über mich stolperte. Mittlerweile ging es auf 3 Uhr morgens zu. Er war völlig außer
sich. ›Bitte, Herr Pastor‹, flehte ich. ›Aus dem Weg, Weib!‹, fauchte er. Mit seinem
ganzen Gehabe schien er dem Alten Testament entsprungen zu sein, ein Dämon, der
nach Vergeltung sinnt, gierig nach Menschenblut lechzend. Er schlug die Richtung
nach Filines Zimmer ein und ehe ich ihn am Betreten des Raums hindern konnte, hatte
er schon die Füße über die Schwelle gesetzt. Wie erschrocken muss die arme Kleine
sein, als sich im Gegenlicht die Silhouette eines rächenden Geistes mit erhobener
Schere im Türrahmen abzeichnete!«
    »Herrje!«,
entfuhr es Amalia Losch.
    »Es war
schrecklich«, fuhr Frau Lembke fort, »diese Hilflosigkeit, das Wissen, nicht eingreifen
zu können. Es ist nun einmal das Los von uns Frauen, dem schwachen Geschlecht anzugehören.
Meine kleine Filine war noch vom Nachmittag her verängstigt. Wissen Sie, weil der
Pastor die verbotenen Bücher bei ihr entdeckt hatte. Ihre Augen waren gerötet und
ich glaube, sie hatte auch noch nicht geschlafen. ›Vater, was wollen Sie?‹, rief
sie entsetzt. ›Dich lehren, was es heißt, gegen Gottes Gebote zu verstoßen, unzüchtige
Natter!‹ Mit raschen Schritten war er an ihrer Bettstatt. Seine hagere Hand schnellte
vor, um sie an den Haaren zu packen. Sie schrie vor Schmerz, als er sie aus dem
Bett zerrte. Meine arme, geschundene Lore Lay! Blonde Haarsträhnen fielen zu Boden,
er drosch auf sie ein, auf die eigene Tochter! Sein eigen Fleisch und Blut!«
    »Potzdonner!«,
war an dieser Stelle des Berichts Albrecht Krosick zu vernehmen. Unbemerkt hatte
der Fotograf die Küche betreten und das Gespräch mitverfolgt. Beruhigend legte er
die Hand auf Bentheims Schulter und meinte: »Den Halunken werden wir Mores lehren.
Der soll uns nicht ungestraft davonkommen.«
    »Was geschah
dann? So sprechen Sie doch«, meinte Julius ungestüm. Seine Aufregung war nicht mehr
zu zügeln.
    »Er ohrfeigte
sie, o mein Gott, ich darf gar nicht dran denken. Immer wieder schlug er auf sie
ein, bis sie aus den Ohren blutete. Ich wollte eingreifen, aber er stieß mich zu
Boden. Herr im Himmel, noch nie habe ich einen derartigen Gewaltausbruch erlebt.
Mein Täubchen lag wimmernd am Boden, zusammengekrümmt, schluchzend. Ich bin nicht
mehr die Jüngste, mein Herz raste wie wild. Und dann … nein, ich kann’s nicht sagen.«
    »Weiter!«
    Die Alte
schluckte und tupfte sich mit einem Seidentüchlein den Schweiß von der Stirn.
    »Die schönen
Haare«, murmelte sie.
    »Was ist
damit?«, wollte Albrecht wissen.
    »Alle weg,
alle geschoren … Es ist
furchtbar.«

Siebzehntes Kapitel
     
    Nachdem sie sich vergewissert
hatten, dass für Filine derzeit keine akute Gefahr an Leib und Leben bestand, führte
Krosick die in Tränen aufgelöste Anstandsdame zur Tür. Durch die unaufgeregte Art,
wie er die Sache anging, spendete er Trost und Linderung für die geschundene Seele
der Frau.
    »Gehen Sie,
Frau Lembke, versuchen Sie zu vermitteln. Vater und Tochter können sich nicht auf
ewig befehden.«
    »Er schon.
Der Pastor kann das. Er hat sie eingesperrt.«
    »Auch, wenn
er die Messe liest?«
    »Heute Morgen
hat er einen Betbruder aus seinem Kirchspiel kommen lassen, der die Sünderin nicht
aus den Augen ließ, während der Pastor den Gottesdienst feierte.«
    Der Fotograf
drückte ihr die Hand. Es war ein warmer, freundlicher Handschlag, der ihr das Gefühl
mit auf den Weg gab, nicht vergebens gekommen zu sein. »Nochmals, Frau Lembke: Kümmern
Sie sich um Filine. Sie braucht Sie an ihrer Seite. Für alles wird sich eine Lösung
finden.«
    Dankbar
verabschiedete sie sich und als die Tür ins Schloss fiel, seufzte Krosick auf. Das
gibt eine Menge zu tun, dachte er. Bentheim war noch immer in der Küche. Aufgelöst
und überreizt hatte er sich mit der Witwe Losch zu einem Streitgespräch verstiegen.
Er war bleich und zitterte. Einem außenstehenden Beobachter wäre sicher aufgefallen,
dass er neben all seiner intellektuellen Schärfe eben doch nur ein grüner Junge
war. Offenbar versuchte er, sich resolut und herrisch zu geben. Sogar die Art, wie
er seine Vermieterin behandelte, zeugte davon, aber

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