Die dunkle Muse
und meinte: »Mein lieber Junge,
wollen Sie mich anhören! Herr Krosick hat recht. Eine Heirat ist aus den bekannten
Gründen nicht zu vollziehen. Dennoch haben wir uns fest vorgenommen, dass Sie die
Frau, die Sie lieben, heiraten sollen. Es wäre eine verächtliche Ausrede, wenn es
Ihnen am Mut gebricht. Schweigen Sie deshalb.«
Bentheim
schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wir würden uns vor den Schranken des Strafgerichts
verantworten müssen. Pastor Sternberg ließe es nie zu, dass ich mich mit ihr vermählte.«
Doch die
Witwe fuhr entschlossen fort: »Er würde es nie wagen. Es wäre sein Ende, wenn publik
würde, dass seine unbefleckte Tochter von Zuhause ausgerissen ist und an der Seite
eines Mannes gelebt, womöglich sogar Unzucht mit ihm getrieben hat. Diese bigotten,
doppelzüngigen Priester sind alle gleich.«
»Wenn er
sich wider Erwarten nicht so verhält? Filine wäre für alle Zeiten entehrt, selbst
wenn nichts zwischen uns passierte. Für die Gesellschaft wäre sie gestorben.«
Krosick
eilte der Witwe zu Hilfe. »Er wird euch seinen Segen geben müssen; das besagt das
Gesetz über Entführungen.«
»Pah! Gesetz
über Entführungen. Du solltest dich reden hören, Albrecht. Der billigste Kolportageroman
ist nichts dagegen. Mir nichts, dir nichts würde der Pastor bei uns auftauchen und
seine Tochter wieder mitnehmen.«
»Bei uns
schon«, grinste der Fotograf, »aber wenn sie nicht hier ist, was dann? Ich kenne
da eine hübsche Dachwohnung, die derzeit leer steht.«
»Du denkst
im Traum nicht daran …«
»Oh doch,
alles, was wir zur Durchführung brauchen, sind zwei Kutschen, eine Leiter sowie
eine Visitenkarte, wobei mindestens einer der beiden Kutscher vertrauenswürdig und
verschwiegen sein muss.«
»Eine Visitenkarte?«
»Ja, wenn
ich bei hohen Gästen geladen bin, mache ich stets einen Abstecher in den Salon,
wo ich meine Taschen mit Visitenkarten vom Tablett fülle. Eine beträchtliche Hilfe,
wenn man vorgibt, jemand anders zu sein. Ich hätte da zum Beispiel einen Geheimrat
zur Auswahl oder einen Baron.« Er warf einen schelmischen Blick auf Amalia Losch
und meinte: »Vielleicht auch eine ältliche Kurtisane, wer weiß?«
Die Witwe
verdrehte die Augen.
»Was hast
du vor?«, wollte Julius wissen.
Krosick
lächelte. »Das wirst du noch früh genug erfahren.«
Der junge Tatortzeichner musste
versprechen, seinem Freund freie Hand zu lassen. In aufgeregter Stimmung legte er
sich zu Bett, wälzte sich unruhig auf seiner Matratze hin und her und fand erst
spät den erlösenden Schlaf. Am nächsten Morgen war er ausgeruht. Wider Erwarten
fühlte er sich frisch und voller Elan. Er bedauerte Filines Schicksal, doch die
Aussicht auf Krosicks Eingreifen glättete die Wogen, die seinen Geist erbeben ließen.
Im Kollegienhaus
angekommen, nahm Bentheim auf seinem angestammten Stuhl Platz und spitzte die Zeichenstifte.
Der Saal füllte sich allmählich. Als das Gericht vollzählig versammelt war, begann
die Verhandlung in ruhiger, sachlicher Weise. Verteidiger Heseler nannte Grund und
Zweck seines zu Prozessbeginn gestellten Antrags einer zweiten Tatortbesichtigung
und verlas die Namen einiger Sachverständiger, die mit ihm und in Begleitung der
Polizei die Mietskaserne durchsucht hatten. Er händigte Richter Jänert eine Dokumentenmappe
von beträchtlichem Umfang aus, worauf dieser ihn und den Ankläger bat, mit den Beisitzern
ins Verhandlungszimmer zu kommen.
Es verging
eine geschlagene Stunde, bis das Richtertrio und die Anwälte den Gerichtssaal wieder
betraten. Die Zuschauer murrten. Die meisten langweilten sich, einige unterhielten
sich oder spielten Karten. Als die Verhandlung wieder ihren Fortgang nahm, verkündete
Heseler: »Die Verteidigung ruft Dr. iur. Joachim Krohn als Zeugen auf.«
Ein hagerer
alter Mann mit Schnurrbart trat vor. Er ging am Stock und konnte nur mit Mühe den
etwas erhöht angebrachten Zeugenstand erklimmen.
»Dr. Krohn«,
begann Heseler schließlich, »ist Geschäftspartner einer Anwaltskanzlei, die ich
mit einer zweiten Tatortbegehung beauftragt habe. Es erschien der Verteidigung angebracht,
eine zweite Meinung einzuholen, zumal die Befunde der ersten Begehung meinen Klienten
nie zufriedengestellt hatten.«
Johann von
Jänert unterbrach ihn unwirsch: »Vereidigen Sie den Herrn!«
Heseler
trat einen Schritt beiseite und ließ den Amtsdiener vortreten. Krohn, dem die Prozedur
bekannt war, erhob die Rechte und sagte, ohne die Formel abzuwarten: »Ich
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