Die dunkle Muse
ungerader
Seriennummer habe ich meiner Geliebten, Fräulein Lene Kulm, vermacht, und zwar am
Tag ihrer Ermordung durch Herrn Gregor Haldern. Dies tat ich, nachdem wir uns wild
und leidenschaftlich geliebt hatten und einzig aus dem Zweck heraus, ihr ein wenig
über die Runden zu helfen. Die zehn Scheine waren in einige Seiten der Allgemeinen
Zeitung eingewickelt und wurden von Fräulein Kulm in ihrem Mieder versorgt. Dass
die Polizei das Geld nicht mehr auf ihrem Körper vorfand, interpretiere ich dahin
gehend, dass es von Herrn Haldern mit in seine Wohnung genommen wurde, nachdem er
Fräulein Kulm grausam ermordet hatte. Zitat Ende. Es folgen noch der Ort und das
Datum sowie die Unterschrift von Herrn Professor Goltz.«
Ernst Detlof,
der Polizist, saß weiterhin im Zeugenstand, da er nicht entlassen worden war, und
der Verteidiger wandte sich wieder an ihn: »Herr Detlof, Sie haben eben vernommen,
wie der Angeklagte seine Mutmaßungen schildert. Liegen diese im Bereich des Möglichen?«
»Das muss
nicht ich entscheiden, Herr Anwalt.«
Fabian Heseler
lächelte einnehmend. »Wo Sie recht haben, haben Sie recht. Aber ich möchte auf etwas
ganz anderes hinaus. Schauen Sie bitte in Ihren Unterlagen nach und erklären Sie
den Geschworenen, was unter Beweisstück 38a aufgeführt ist.«
»Das sind
Seiten der Allgemeinen Zeitung.«
»Irgendwelche
Auffälligkeiten?«
»Blutverschmiert.«
»Gut. Und
worum handelt es sich bei den Beweisstücken 37a bis j?«
»Das sind
Banknoten.«
»Ungerader
oder gerader Reihennummer?«
Detlof warf
einen Blick auf seine Unterlagen, blätterte eine Seite um und meinte leise: »Ungerade.«
»Lauter,
Herr Detlof, wir können Sie nur schwer verstehen!«
»Es sind
ungerade Nummern«, wiederholte der Polizist sichtlich zerknirscht.
An dieser
Stelle unterbrach Jänert die Befragung, indem er sich mit einschüchternder Stimme
an Görne wandte: »Es ist zwar ein wenig unkonventionell, Herr Anwalt, aber ich frage
Sie, ob Sie ein Kreuzverhör wünschen. Ausnahmsweise verzichte ich auf mein Befragungsrecht.
Die Herren Anwälte sind von den ergänzenden Fragen entbunden und können direkt loslegen.«
Theodor
Görne stand auf, nickte verlegen und trat vor. Mit galanter Geste hieß ihn Heseler
willkommen und machte ihm gönnerhaft Platz. Ein leises Schmunzeln fuhr durch die
Zuschauerreihen. Julius Bentheim hingegen erschauderte. Er rief sich die Szene in
der Mordnacht in Erinnerung, als er mit Gideon Horlitz den Tatort besichtigte. Karl
Otto von Leps, der greise Untersuchungsrichter, hatte sich mit gesenkter Stimme
an den Kommissar gewandt und ihm angeraten, dem Anwalt Görne zur Hand zu gehen.
»Sie wissen, dass er eine Schande seiner Zunft ist«, waren seine prophetischen Worte
gewesen.
Der Anwalt
stand reglos vor dem Zeugen. Der Schweiß auf seiner Glatze glänzte im hellen Sommerlicht,
als er fieberhaft nachdachte.
»Herr Anwalt!«,
forderte ihn unwirsch der Richter auf. »Wir haben nicht alle Zeit der Welt.«
Görne fing
sich. Nach lautem Räuspern meinte er: »Herr Detlof, gab es irgendwelche Hinweise
darauf, dass das in Herrn Halderns Wohnung aufgefundene Geld vom mutmaßlichen Täter
stammt?«
»Nein.«
»Könnte
man die Behauptung wagen, dass vielmehr Herr Professor Goltz das bei ihm konfiszierte
Geld dem Opfer gestohlen hatte?«
»Das liegt
im Bereich des Möglichen«, antwortete der Zeuge.
»Mir schwebt
noch eine weitere Variante vor Augen. Kann es nicht auch sein, dass beide Männer,
der Professor und Fräulein Kulms Verlobter, unabhängig voneinander das Geld bei
der Bank abgehoben haben?«
»Auch das
wäre möglich«, sagte der Polizist, worauf ein Raunen durch die Zuschauermenge ging.
Bentheim schüttelte unmerklich den Kopf. Er skizzierte die undurchdringliche Miene
des Zeugen, der in die unglückliche Lage gedrängt wurde, schwachsinnige Antworten
auf schwachsinnige Fragen zu geben.
»Ihr Zeuge,
Herr Kollege.«
Fabian Heseler
lehnte sich lässig an die Holzverkleidung, die den Zeugenstand einfasste, und fragte:
»Herr Detlof, haben Sie persönlich schon einmal Geld abgehoben?«
»Ja.«
»Neue Scheine?«
»Gewiss.«
»In welcher
Reihenfolge haben Sie die Scheine erhalten?«
»Ich verstehe
nicht ganz … Man hat
mir das Geld ganz einfach gegeben. Vor mir abgezählt.«
»Ich spreche
die Seriennummer an, Herr Detlof. Waren diese fortlaufend?«
»Einspruch!«,
rief Görne. »Der Zeuge wird sich wohl schwerlich an die Seriennummer seiner Auszahlung
erinnern
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