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Die dunkle Quelle

Die dunkle Quelle

Titel: Die dunkle Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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einzelnen Gesichter nach. Ich folgte dem Weg,
den sie mir wiesen, und gelangte so zu frischem Wasser, Früchten, Nüssen und
schließlich in ein verborgenes Dorf. Die Eingeborenen waren nackt und über und
über mit Kreisen, Spiralen, Dreiecken und Mondsicheln bemalt. Sie gaben mir
reichlich zu essen und zeigten mir aus Holz geschnitzte Köpfe. ›Oobo‹, sagten
sie immer wieder und deuteten nickend auf die Köpfe. ›Oobo‹. Ein Schutzgeist,
vielleicht? Ein Gott? Auch das werde ich nie mit Sicherheit erfahren. Die
Holzköpfe sahen sich ähnlich, aber keine zwei waren gleich. Einige schienen
Haare zu haben, wieder andere Glatzen. Bevor ich erschöpft einschlief, umrahmte
man mein Mattenlager mit dreißig, vierzig Oobos. Als ich wieder aufwachte,
waren die Oobos fort und mit ihnen das Dorf. Ich befand mich ganz woanders, am
östlichen Rand des Regenwaldes, und aus den strahlenden Zacken des
Silberkronengebirges herab kamen Gewürzhändler aus Diamandan auf mich zugeritten,
um mich mit zurückzunehmen in eine Welt, in der es auch andere Farben als Grün
gibt.«
    Smoi legte eine Pause
ein, um einen Schluck aus einem Wasserschlauch zu trinken. Rodraeg dachte über
Timbare nach, über den Regenwald und die Sklavenfänger des sonnenfeldischen
Diamandan.
    Â»In den Jahren danach
vergaß ich vieles von dem, was ich im Dschungel erlebt und gesehen hatte«, fuhr
Smoi schließlich fort. »Es war, als wären diese Tage aus einem sehr feinen
Gespinst gewebt worden – je genauer ich sie mir im Gedächtnis betrachten wollte,
desto mehr zerfaserte alles und gab den Blick frei auf das kochende, neblige
Meer dahinter. Ich begann ein neues Leben, möglichst weit von allen Küsten
entfernt, und arbeitete als Zeichner für eine Steinmetzfabrikation in der Nähe
von Gagezenath. Aber vor acht Jahren kehrten die hölzernen Köpfe zurück,
diesmal in meinen Träumen. Ich sah sie nachts so deutlich vor mir, daß ich sie
am folgenden Morgen zeichnen konnte. Es wurden mehr als fünfzig Zeichnungen,
dann beschloß ich, mit Holz zu arbeiten und die Köpfe zu schnitzen. Es ging so
leicht, als führte jemand anders meine Hand. Ich weiß immer noch nicht genau,
was das alles zu bedeuten hat, aber seit mittlerweile sieben Jahren reise ich
als Holzschnitzer durch das Landesinnere und verdiene mir meinen Lebensunterhalt
damit, immer neue Köpfe zu schnitzen und sie zu verkaufen.«
    Â»Wer kauft denn
Holzköpfe?« fragte Hellas belustigt.
    Â»Ihr würdet Euch
wundern. Ich bin mir ziemlich sicher, daß Ihr zum Beispiel einen kaufen werdet.
Es bringt nämlich Glück, einen Oobokopf zu besitzen.«
    Â»Habt Ihr inzwischen
eine Erklärung gefunden, wen die Köpfe darstellen?« fragte Rodraeg und holte
einige der Schnitzwerke unter der Plane hervor.
    Â»Seht sie Euch an,
vielleicht erkennt Ihr jemanden wieder. Zwei Mal glaubten Witwen in meinen
Köpfen ihre verstorbenen Männer zu erkennen. Schon oft wurde mir gesagt: ›Der
sieht ja aus wie der-und-der. Das ist ein großartiges Geschenk.‹ Dann wiederum
finden Leute die Köpfe lustig oder unheimlich, barbarisch oder großstädtisch,
federleicht und felsenschwer, künstlerisch oder unfertig. Wen stellen sie dar?
Ich weiß es wirklich nicht. Möglicherweise sind das all die Gesichter, die mein
Auge im Laufe meines langen Lebens zwar gestreift, mein Gehirn aber nicht
bewußt wahrgenommen und gespeichert hat. Eine endlose Prozession des Vergessens
und der Nebensächlichkeit, über die Klippe an Land gespült von meinem unruhig
träumenden Ich. Alle diese Köpfe sind Oobo. Aber wer ist Oobo? Bin ich Oobo?
Ist Oobo einer der zehn Götter – oder ein elfter, dessen man sich nur noch im
Dschungel erinnert? Tragt Ihr beiden ebenfalls seine Köpfe auf Euren Schultern?
Ich weiß es nicht und werde es womöglich nie erfahren, aber ich reise und lerne
und mache meine Köpfe, und ich fahre nach Somnicke, um die fliegenden Vögel des
berühmten Holzschnitzers Meister Heisel zu sehen und – wenn ich Glück habe –
von ihm zu lernen, was meinen Köpfen noch fehlt, damit sie das Sprechen lernen
und mir ihr Geheimnis ins Ohr flüstern können.«
    Hellas wurde das Ganze
nun doch zu wunderlich. Er rückte etwas ab. Rodraeg jedoch besah sich die
verschieden großen und mit unterschiedlichen Mienen versehenen Oobos genauer
und

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