Die dunkle Schwester
hob der Reiter den Arm, streifte die Kapuze ab, und dann erblickte sie das schöne, kalte Antlitz von Gabriel Drake.
Tania fuhr aus dem Schlaf und starrte zu dem hohen schmalen Fenster hinauf. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war.
»Burg Weir«, wisperte sie, als die Erinnerung zurückkehrte. Kein Wunder, dass sie an einem solchen Ort Albträume hatte! Und doch ist alles in Ordnung, sprach sie beruhigend zu sich selbst. Niemand hatte sie erkannt und Gabriel war weit weg im Süden. Bei Tagesanbruch konnten sie ihre Reise fortsetzen.
Im Raum war es jetzt ganz still, das Rauschen von Wind und Regen war verstummt. Tania hob den Kopf und spähte aus dem Fenster. Draußen war es noch dunkel, aber ein gespenstischer rötlicher Glanz zeigte sich oben am Fenstersturz. Sie schüpfte aus dem Bett und tappte über den nackten Holzboden. Die Mauer war so dick, dass sie sich weit vorbeugen musste, um den Griff zu fassen und das Fenster ins Dunkel aufzustoßen. Ihre Fußspitzen berührten kaum noch den Boden, als sie sich hochreckte, um hinunterzusehen. Unter ihr fielen die grauen Steinmauern des Torhauses senkrecht zu dem gewundenen Bergpfad ab.
Tania zuckte zusammen, als sie die Quelle des roten Lichts erkannte. Zwei Soldatenreihen bildeten ein Spalier am Wegesrand und ein einsamer Reiter trabte langsam zwischen ihnen zum Tor hinauf. Mit angehaltenem Atem, die vor Kälte klammen Finger in das Mauerwerk gekrallt, starrte sie auf die fackelerleuchtete Szene hinunter. Der Reiter war in einen schwarzen Umhang gehüllt, aber er trug keine Kapuze.
»Nei n …«, wisperte Tania. »Bitte nich t …«
Der Hauptmann der Wache trat aus dem Dunkel hervor.
»Hauptmann Ambrose.« Gabriels samtige Stimme drang mit der eisigen Luft zu ihr empor. »Weckt meinen Vater. Ich möchte ihn sprechen und erwarte ihn im Obsidiansaal.«
»Ja, Mylord.«
Gabriel trieb sein Pferd an und verschwand unter dem Torbogen, gefolgt von den Fackelträgern, die ihr Spalier auflösten. Dröhnend fiel das Tor zu. Tania glitt auf den Boden. Es konnte kein Zufall sein, dass Gabriel in derselben Nacht in Caer Liel eingetroffen war wie sie. Irgendwie musste er erfahren haben, dass sie und ihre Gefährten hier waren. Sie dachte an jene Worte, die ihr keine Ruhe ließen: »Ihr werdet niemals von mir loskommen! Wusstet Ihr das nicht? Wir sind für immer miteinander verbunden.«
Tania starrte auf die Tür, darauf gefasst, dass jeden Moment ein säbelrasselnder Soldat hereinstürzen und sie zu Gabriel schleppen konnte, der bereits auf sie lauerte wie die Spinne im Netz. Aber kein Stiefeltritt war auf der Treppe zu hören und keine Faust hämmerte an die holzgetäfelte Tür.
Langsam stand sie auf und fasste wieder Mut. Als sie sich angezogen hatte, öffnete sie leise die Tür, die auf den kahlen, fackelerleuchteten Gang hinausging. Einen Augenblick lang starrte sie auf Edrics und Cordelias geschlossene Türen und überlegte, ob sie die beiden wecken sollte. Aber dann ließ sie es sein. Erst musste sie herausfinden, warum Gabriel Drake hier war, und allein würde sie viel weniger auffallen als in Begleitung.
Lautlos schlich sie die Wendeltreppe hinunter. Aus dem geschlossenen Wachraum drangen die Stimmen der Soldaten. Tania hörte ganz deutlich die Worte »von den Toten auferstanden«. Damit war zweifellos Gabriel gemeint. Die Verbannung nach Ynis Maw war fast immer eine Reise ohne Wiederkehr, sodass die Wachen vermutlich vollkommen entgeistert gewesen waren, als ihr junger Herzog den Burgweg heraufkam.
Tania entdeckte eine zweite Tür gegenüber dem Wachraum und zog sie vorsichtig auf. Die Tür führte in einen langen Gang mit Fenstern an der Seite, die zum Hof gewandt war. Eine lange Reihe von ausgestopften Einhornköpfen zierte die andere Wand. Tania wandte schnell den Blick von diesen grausigen Trophäen, dann schlich sie auf Zehenspitzen den Gang entlang und huschte durch die Tür am anderen Ende hinaus. Gabriel hatte gesagt, dass er seinen Vater im Obsidiansaal erwarte. Aber wo war das? Caer Liel war riesig; wie sollte sie sich hier jemals zurecht-finden? Doch eine innere Stimme trieb sie weiter. Hastig durchquerte sie eine große, mit Steinplatten ausgelegte Vorhalle. In der einen Wand waren hohe schwarze Türen eingelassen, und eine Steintreppe führte zu einer Galerie hinauf.
Geh die Treppe hinau f – du wirst ihn finden.
Wie denn?
Das Band zwischen euch führt dich zu ihm.
Tania stieg die Treppe hinauf. Dieselbe Macht, die ihr den Traum geschickt
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