Die dunkle Schwester
hi-nauf. Tania lehnte sich aus dem Fenster und spähte in den Abgrund hinunter. Das braune Seil baumelte an der glänzenden grauen Steinmauer hina b – und dort, etwa vierzig Fuß tiefer, stand Cordelia und winkte ihr zu. Tania schwang ein Bein über den Sims, verlagerte langsam ihr Gewicht und klammerte sich mit beiden Händen am Seil fest, dann kletterte sie aus dem Fenster in die kalte Nachtluft hinaus. Unter ihr gähnte der Abgrund.
Ihr Herz klopfte wie verrückt, aber sie biss die Zähne zusammen, angelte mit den Füßen nach dem Seil und klemmte es zwischen Spann und Sohle fest. Dann ließ sie sich langsam hinunter. Cordelia streckte ihr die Hände entgegen und half ihr auf dem letzten Stück. Schließlich standen sie nebeneinander, Hand in Hand, und starrten schweigend nach oben, wo Edrics Kopf im Fenster auftauchte. Mit angehaltenem Atem schaute Tania zu, wie er herauskletterte und den Abstieg begann.
Als Edric noch gut fünfzehn Fuß vom Boden entfernt war, erschien eine zweite Gestalt am Fenster über ihm und brüllte lauthals: »Halt! Oder du bist des Todes!«
»Barmherzige Geister!«, rief Cordelia erschrocken. »Wir sind entdeckt!«
»Spring, Edric!«, schrie Tania. Im selben Moment blitzte etwas Weißes am Fenster auf, das Seil riss, und Edric landete zwischen ihnen auf dem Boden. Die Seilschlingen fielen über ihn.
Er hatte den Aufprall geschickt abgefangen und sich auf den Beinen halten können. »Schnell!«, keuchte er. »Runter vom Weg!«
Dann stürzte er zu der Felsenklippe, die senkrecht in die pechschwarze Tiefe abfiel, und drehte sich noch einmal um. »Leicht wird es nicht«, keuchte er und Tania sah die Angst in seinen Augen. Er kauerte sich an den Rand und war plötzlich verschwunden.
Raue Männerstimmen erschallten über ihnen. Bald würden die Burgtore aufgestoßen werden und die Soldaten hinter ihnen herjagen. Tania setzte sich an den Rand und spähte in die Tiefe, wo sie gerade noch Edrics Silhouette erkennen konnte, der unter ihr kletterte. Sie holte einmal tief Luft, drehte sich um und tastete mit den Füßen nach einem Halt. Cordelia kauerte startbereit über ihr. Endlich ertastete Tania mit ihrem Fuß einen winzigen Vorsprung und sie ließ sich hinunter. Ihre eine Hand fand einen Spalt, dann die andere. Jetzt drehte Cordelia sich um, ihr Fuß strampelte haltsuchend an der Wand herum, während sie sich über den Rand schob. Tania verlagerte ihr Gewicht und begann den gefährlichen Abstieg.
XVI
D ie Sonne ging am blassblauen Himmel auf und erleuchtete eine Landschaft mit wogenden Heidehügeln und weiten steinigen Tälern. Tania, Edric und Cordelia rasteten an einem kleinen Wildbach, der in eine enge Felsenkluft hinabstürzte. Tania zog ihren Mantel enger um sich. Der Ausblick war fantastisch, aber die kalte Morgenluft ließ sie frösteln. Alle paar Sekunden spähte sie ängstlich über die Schulter, falls irgendwo ihre Verfolger mit Gabriel Drake an der Spitze auftauchten.
Die schroffe Bergwelt von Weir lag jetzt hinter ihnen. Sie waren die ganze Nacht marschiert, bis sie diese Hügel erreicht hatten, immer in der Angst, entdeckt und gefangen zu werden. Aber nur einmal hatten sie ihre Verfolger in der Ferne erblickt: ein Reitertrupp mit roten Fackeln, der sich rasch auf einem Kamm entlangbewegte.
Die Gewitterwolken hatten sich in der Nacht nach Westen verzogen und der Himmel war jetzt hell und klar.
Tania warf einen Blick zu Edric hinüber, der auf einem Grasbuckel stand, die Arme fröstelnd vor der Brust verschränkt. Er starrte angestrengt nach Norden, wo die Hügel in blauem Dunst verschwammen. Cordelia hatte unterwegs einen Feuerstein aufgelesen, den sie an einem Stein wetzte. Jetzt blickte sie auf, als ob sie Tanias Blick gespürt hätte.
»Ich gehe nicht unbewaffnet in die Wildnis«, verkündete sie, während sie ihren Stein hob und wie einen Dolch in die Luft rammte. »Lass sie nur kommen, Schweste r – der Erste, der uns angreift, wird sein Ungestüm bitter bereuen.«
Edric kam langsam zum Lagerplatz zurück.
»Nun, Master Chanticleer«, rief Cordelia und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an, »seid Ihr sicher, dass Ihr uns führen könnt?«
»Ja, Mylady, ich hoffe es«, sagte Edric und zeigte nach Norden. »Seht Ihr die zwei Hügel dort? Den großen mit dem kleineren daneben? Das sind der Große Erl und der Kleine Erl. Dazwischen verläuft der Grantorpass. Wenn wir diesen Weg nehmen, kommen wir zu den Wildwasser- und Skarnsidefällen und zum Fluss Lych.«
»Ihr
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