Die dunkle Schwester
weiter sie nach Norden kamen, desto feindseliger schien die Landschaf t – ein Gedanke, der im Grunde total verrückt war, aber Tania konnte ihn nicht abschütteln. Prydein wollte sie nicht.
Edric hatte sie noch extra ermahnt, wachsam zu sein, ehe er schlafen gegangen war. »Ich habe seltsame Geschichten über diese Gegend gehört«, hatte er gesagt, »über die Irrlichter von Prydein. Es heißt: Wer sich nachts in die Berge verirrt, wird von seltsamen Erscheinungen heimgesucht. Er sieht Dinge, die nicht da sind.«
»Ich habe auch schon von diesen Erscheinungen gehört«, sagte Cordelia. »Heimtückische Geister, die verirrte Wanderer in den Tod locken.«
Tania hatte ihre Wache mit gemischten Gefühlen angetreten, aber bisher war nichts passiert, außer dass ihr vor Erschöpfung immer wieder die Augen zufielen. Die Einhörner lagerten in der Nähe, eng aneinandergeschmiegt, die Vorderbeine unter dem Körper und mit vorgereckten Hälsen, sodass jeweils der Kopf des einen auf dem Körper eines anderen ruhte.
Eine Sekunde lang kam der Mond zwischen den jagenden Wolkenfetzen hervor und schien Tania ins Gesicht. Sie gewöhnte sich allmählich an den abrupten Wetterwechsel im Elfenreich. Das ging den ganzen Tag so: Erst brannte die Sonne auf sie herab, dann fegte ein eisiger Wind von Westen her, der dicke graue Regenwolken mit sich führte. Die Wolken regneten ab und lösten sich auf und der Himmel war wieder blau.
Tanias Augenlider wurden immer schwerer, je weiter die Nacht voranschritt. Sie hatte Edric versprochen, ihn zu wecken, wenn sie nicht mehr konnte, aber sie wollte ihn so lange wie möglich schlafen lassen. Irgendwann sackte ihr der Kopf hinunter und ihre Augen fielen zu. Die Berge wisperten im Dunkeln, die wuchtigen alten Steinblöcke neigten sich ächzend und knirschend über ihr, als wollten sie sie zermalmen.
Mit einem Aufschrei fuhr Tania hoch. Vor ihr stand eine verschwommene Männergestalt, wabernd wie eine blasse Flamme, und winkte ihr zu. »Kommt mit«, sagte der Mann, dessen Gesicht ihr irgendwie vertraut war. »Kommt, und Ihr sollt alles erfahren.«
Tania stand auf wie in Trance. »Gabriel?«
»Die Zeit drängt, Mylady. Ihr müsst zu mir kommen.«
Dunkle Wolken wirbelten durch Tanias Kopf. »Nei n … Ich muss Wache halte n …«, sagte sie stockend. Etwas Schreckliches ging vor, das spürte sie, aber sie wusste nicht mehr, warum sie der flackernden silbrigen Gestalt nicht folgen sollte. Unsicher bewegte sie sich vorwärts, die Hände zu Gabriel ausgestreckt, der langsam von ihr wegschwebte.
»Nur noch ein paar Schritte, Mylady.«
»Ja.«
Dann ertönte eine Stimme hinter ihr. »Tania!« Zwei Hände packten sie und zerrten sie zurück.
Als Tania wieder zu sich kam, stand sie direkt am Abgrund. Mit dem nächsten Schritt wäre sie ins Nichts gestürzt.
Edric zog sie in seine Arme. Jetzt stürzte auch Cordelia zu ihnen herauf. Tania sah, dass sie gut fünfzig Meter von ihrem Lagerplatz entfernt war. Verwirrt blinzelte sie Edric an, als er sie fest an den Schultern packte und ihr in die Augen sah.
»Es war Gabriel«, murmelte sie. »Er wollte, dass ich ihm folge.«
»Das ist ein böser Schlag«, murmelte Cordelia. »Wenn der Verräter sich in deinen Geist einschleichen und deinen Willen lenken kann, wie sollen wir uns dann je vor ihm schützen?«
Der Nebel in Tanias Kopf löste sich auf, jetzt stieg die Angst in ihr hoch. »Heißt das, dass er weiß, wo wir sind?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Edric. »Aber vielleicht war er es gar nicht, sondern eines dieser Irrlichter, vor denen ich dich gewarnt habe. Bist du eingeschlafen, bevor du ihn gesehen hast?«
»Ja, ich glaub schon«, gab Tania zu. »Ich hatte so komische Träume von den Bergen.«
»Die Geisterlichter suchen gern Schlafende heim«, erklärte Cordelia. »Master Chanticleer hat sicherlich Recht: Was du gesehen hast, war eine Illusion.«
»Also, von jetzt an bleib ich wach, komme, was wolle«, sagte Tania schaudernd. »So was will ich nicht noch mal erleben.«
»Nein, ich löse dich ab«, entgegnete Edric, als sie zu ihrem Lager zurückgingen. »Du brauchst jetzt erst mal ein bisschen Schlaf.«
Tanz blickte ihnen entgegen, behielt aber den Kopf unten, ein Zeichen, dass alles in Ordnung war. Tania legte sich hin und zog sich ihren Mantel über den Kopf. Sie war zu müde, um die Augen aufzuhalten. Während sie langsam in den Schlaf hinüberdriftete, spürte sie, dass im Herzen des Berges etwas lauerte, etwas Grausames,
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