Die dunkle Schwester
Stein traf Edric im Rücken. Er stürzte und Tania rannte zu ihm.
»Alles okay«, keuchte er. »Schnell, hinein in die Höhle!«
Einen Augenblick später waren sie unter dem niedrigen Höhlendach in Sicherheit. Der Steinhagel hielt noch eine Weile an, ein paarmal wurden sie fast von Querschlägern getroffen, die von den Höhlenwänden abprallten.
Tania kroch zum Höhleneingang. »Hört auf!«, brüllte sie. »Hört sofort auf! Wir haben euch nichts getan!«
Wie auf ein Stichwort hörte der Steinhagel auf. Tania schaute die anderen verblüfft an. »Das war cool«, sagte sie entzückt. »Meint ihr, die verstehen Englisch?«
»Du kannst es ja versuchen«, sagte Edric.
Tania verbarg sich halb im Höhleneingang.
»Hallo?«, rief sie. »Wir sind Freunde! Wir wollen nur mit euch reden!«
Gespannt wartete sie auf Antwort, aber es kam keine. »Ich geh mal da raus«, sagte sie mit einem Blick zu Edric und Cordelia.
»Nein, das darfst du nicht!«, protestierte Edric.
»Weißt du was Besseres? Wir können doch nicht ewig hierbleiben!«
»Dann gehe ich«, verkündete Edric.
»Nein, ich gehe. Für dich ist es genauso gefährlich wie für mich.« Tania stand auf und trat ins Freie. Eines hatte sie den anderen verschwiegen: Sie fühlte sich insgeheim mit diesen Wesen verbunden. Sie hatten Flüge l – leichte durchsichtige Flügel, so wie das Flügelpaar, das ihr vor ein paar Wochen aus den Schultern gewachsen war.
»Bitte tut uns nichts!«, rief sie. »Wir wollen doch nur mit euch reden!«
Im Tal blieb es totenstill. Vielleicht waren die geflügelten Geschöpfe fort?
Da stieg eine einzelne Gestalt über einem Felsen in der Nähe auf. Das Wesen segelte durch die Luft und landete leichtfüßig auf der Felsenkuppe. Dort kauerte es mit gebeugten Knien, in der einen Hand einen Stein, die andere um den Fels geklammert. Tania starrte es ungläubig an. Es trug menschliche Züge, sah aber trotzdem so fremdartig aus, dass ihr fast der Atem stockte.
»Hallo«, krächzte sie, denn ihr Mund war ganz trocken vor Angst.
Die Kreatur schien weiblich zu sein. Sie trug einen schlichten braunen Bauernkittel, Arme und Beine waren nackt. Die schillernden Flügel ragten hoch über ihrem Kopf auf. Meergrüne Augen in einem schmalen dreieckigen Gesicht musterten Tania. In aufrechter Haltung musste das Geschöpf knapp einen Meter groß sein. Sein Körper war schlank und feingliedrig, die Haut schimmerte in einem Elfenbeinton, der an manchen Stellen ins Grünliche oder Bläuliche ging, als würden die Adern durchscheinen. Lange, ungekämmte blaugrüne Haare hingen ihr über die Schultern.
»Sag an, was du bist!«, rief die geflügelte Frau mit schriller Stimme und in ihrem geöffneten Mund konnte Tania nadelspitze Zähne erkennen.
»Ich heiße Tania und das hier sind meine Freund e – Cordelia und Edric. Wir tun euch nichts.«
Die Kreatur legte den Kopf schief, schnitt eine Fratze und verlagerte dabei unbehaglich ihren Fuß. »Ihr tut uns nichts, sagst du? Nein, wahrhaftig, das würde euch schlecht bekommen, Fid Foltaigg.«
»Ä h … Entschuldigung«, sagte Tania und trat langsam auf das Wesen zu. »Ich verstehe nicht, was das heiß t – wie hast du uns genannt?«
»Fid Foltaigg«, wiederholte die Kreatur. Sie richtete sich auf und schlug sich mit der Hand gegen die Brust. »Wir sind Lios Foltaigg.«
»Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
Staunend bemerkte Tania ein Dutzend anderer Kreaturen, die überall zwischen Felsen auftauchten und sie umringte n – Männer und Frauen, alle ebenso gekleidet wie die erste, alle geflügelt und von gleicher Gestalt.
»Ihr seid die Unfertigen«, verkündete die erste Kreatur. »Wo bleibt dein Stolz?«
»Mein Stolz?« Tania blickte um sich und plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Oh, du meinst meine Flügel. Ich habe keine. Früher hatte ich welche, abe r … äh, also, ich hab sie verloren.«
Plötzlich spürte sie eine Hand auf dem Rücken. Einer der Männer hatte sich leise an sie herangeschlichen und starrte sie neugierig an. »Einst warst du geflügelt«, sagte er. »Ich spüre die Flügel an deinem Rücken. Ihr Verlust schmerzt dich sehr.«
»Ja, das stimmt«, gab Tania zu. Immer mehr der Geschöpfe näherten sich und blickten sie fragend an. Tania wandte sich zu Edric und Cordelia um, die im Höhleneingang standen. »Ich glaube nicht, dass sie uns etwas tun werden«, sagte sie zu ihnen.
Dann wandte sie sich wieder dem ersten Weibchen zu. »Wie heißt du?«
»Clorimel Emalia
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