Die dunkle Schwester
Cordelia. »Und lasst uns die Seetauglichkeit des Bootes auf die Probe stellen.«
Clorimel entfaltete anmutig ihre Flügel und segelte über die Uferlinie. Tania und die anderen folgten ihr, zusammen mit mehreren Lios Foltaigg, die an den Felsen vorbeistreiften. Schließlich erreichten sie eine Stelle, wo die dunklen Klippen senkrecht in den Himmel aufragten und die Wellen sich in einem weißen Schaumwirbel brachen. Clorimel führte sie über nasse, von schlüpfrigem Tang bedeckte Felsblöcke.
Ein dunkler Spalt tauchte in der Klippenwand auf. Die Höhle hatte einen einzigen Boden und reichte tief ins Dunkel hinein. Neben dem Eingang lag ein schmales schwarzes Ruderboot.
Edric beugte sich darüber, die Hände am Schandeck. »Es scheint in Ordnung zu sein«, sagte er zu Clorimel, die am Höhleneingang stand. »Wann wurde es das letzte Mal zu Wasser gelassen? Und warum liegt es hier?«
»Es wurde nicht von den Lios Foltaigg geschaffen und wir benützen es auch nicht«, erwiderte sie. »Die Günstlinge der Sonne sind einst mit dem Boot gefahren, nur weiß ich nicht, zu welchem Zweck. Doch heißt es, das Blut der Steine sei Nahrung für die Sonne.«
»Was bedeutet das?«, fragte Tania.
Clorimel legte den Kopf schief. »Es bedeutet, was es bedeutet«, sagte sie. »Nicht mehr und nicht weniger. Ist das Boot noch zu gebrauchen?«
»Ich glaube schon«, sagte Edric. Er sah Tania und Cordelia an. »Helft ihr mir, es an den Strand hinunterzuziehen?«
Zu dritt schleppten sie das Boot aus der Höhle und über die Steine hinunter. Tania sah zwei Ruder im Kiel liegen. Es war klar, dass jemand mit dem Boot nach Ynis Maw gerudert war. Oberon brauchte kein Boot, um Verbannte nach Ynis Maw zu schicke n – dafür setzte er seine Magie ein. Wer also hatte das Boot genommen und wozu?
Mit vereinten Kräften schoben sie das Boot ins Wasser. Edric watete knietief nebenher und kämpfte mit den Wellen, die ihm beinahe das Boot entrissen.
»Es dringt offenbar kein Wasser ein«, stellte Cordelia fest. »Der Rumpf ist noch heil.«
Edric hielt das Boot fest, während Tania und Cordelia hineinkletterten. Das Gefährt hüpfte wild auf den Wellen, aber sie schafften es, Edric hineinzuziehen, ohne dass es kenterte. Cordelia nahm eines der Ruder, um das Boot auf Abstand zu den Felsen zu halten. Edric kroch zu ihr ins Heck und gemeinsam stießen sie sich vom Ufer ab. Tania saß im engen Bug, Cordelia im Heck, Edric platzierte sich in der Mitte und begann mit langen, festen Schlägen zu rudern. Er brauchte seine ganze Kraft, um das Boot zu beherrschen. Verbissen kämpfte er gegen die Wellen an und steuerte geschickt vom Ufer weg.
»Das klappt super, Edric!«, munterte Tania ihn auf. »Du schaffst es!«
Edric nickte. Schweißüberströmt beugte er sich vor, um die Ruder in weitem Bogen aus dem Wasser zu heben. Dann führte er sie zurück und drehte die Ruderblätter, während er sie eintauchte und erneut durchs Wasser zog. Es dauerte einige Zeit, bis sie die schäumende Brandung hinter sich gelassen hatten. Erst jetzt sah Tania, dass ein paar Lios Foltaigg ihnen gefolgt waren und leicht wie Löwenzahnschirmchen neben ihnen herschwebten.
Die Überfahrt war alles andere als einfach. Das kleine Boot wurde herumgeworfen wie eine Nussschale, als wollte das Meer sie mit aller Gewalt vom Kurs abbringen. Tania klammerte sich am Bootsrand fest und spähte über die Schulter, sah den schwarzen Strand von Ynis Maw langsam näher rücken.
Schließlich landeten sie in einem wilden Schaumstrudel. Nass bis zu den Hüften kämpften sie gegen die See an, die ihnen das Boot mit aller Gewalt entreißen wollte, und zogen es mit letzter Kraft auf den schwarzen Kiesstrand hinauf. Tania starrte auf die glatten schwarzen Felsen, die weiter oben aufragten und gespenstisch unter dem grauen Himmel schimmerten.
Cordelia legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den Lios Foltaigg auf, die ein Stück vom Ufer entfernt in der Luft schwebten. »Was glaubst du, Schwester? Sind sie mitgekommen, um uns zu helfen oder um uns auszuspähen?«, fragte sie misstrauisch.
»Ich weiß nicht.« Tanias Herz machte einen Satz, als sie zu den zarten Gestalten mit den schimmernden Libellen-flügeln aufblickte, die wie Spielzeugdrachen am Himmel schwebten und mit ihren mandelförmigen grünen Augen zu ihnen herunterblickten.
In diesem Augenblick beneidete sie die Lios Foltaigg glühend.
Clorimel kreiste tiefer. »Wir werden euch bei eurer Suche helfen!«, rief sie ihnen zu. »Sagt
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