Die dunkle Seite der Dinge
Herr Döhring, hier
spricht Mike Stein. Ich habe mich aus meiner Wohnung ausgeschlossen.“
„ Dann rufen Sie gefälligst
den Schlüsseldienst!“
„ Herr Döhring, ich
habe es verdammt eilig und Sie wissen doch, dass der Schlüsseldienst
immer so wahnsinnig lange auf sich warten lässt. Ich würde
mich auch erkenntlich zeigen.“
„ Wie viel?“
„ Fünfzig.“
„ In zwei Minuten bin ich
da.“
Das Gespräch wurde abrupt
beendet.
Wellinger grinste, dann glitt
sein Blick erneut zu den Briefkästen. Etwas hatte seine
Aufmerksamkeit erregt. Seine Augen wanderten über die grauen
Boxen. Dann begriff er. Während die meisten der schmalen
Schlitze vor Werbeblättern und Wurfsendungen überquollen,
war Mikes Kasten jungfräulich leer. Das konnte eigentlich nicht
sein. Wenn der Journalist schon mehrere Tage verschwunden war, dann
müsste dessen Brieffach randvoll sein.
Wellinger hob die Klappe an und
starrte in die schmale Öffnung hinein. Gähnende Leere
blickte ihm entgegen. Noch nicht einmal die obligatorische Menükarte
eines Pizzalieferdienstes war zu entdecken.
„ Was ist los?“
Franziska erschien auf dem ersten Treppenabsatz.
„ Frau Doktor Stein, haben
Sie die Post Ihres Bruders an sich genommen?“
„ Nein, warum fragst du?“
Er deutete mit dem Finger auf den
Briefkasten. „Es ist sehr ungewöhnlich, aber wenn Ihr
Bruder schon mehrere Tage verschwunden ist, dann müsste sich
etwas angesammelt haben. Da ist aber nichts.“
„ Heißt das, Mike ist
nicht verschwunden, sondern er versteckt sich bloß und schaut
jeden Tag nach, ob er Post bekommen hat?“
„ Nein, dann hätte er
sich bei Ihnen gemeldet.“ Wellinger wollte ihr keine falsche
Hoffnung machen. „Wahrscheinlicher ist, dass jemand die Post
herausnimmt?“
„ Aber wer sollte das sein?“
Genau diese Frage beschäftigte
auch den Kommissar.
Ein Geräusch an der Haustür
ließ sie herum fahren.
„ Ich habe nicht viel Zeit“,
sagte der Mann im grauen Kittel kurz angebunden und stapfte an ihnen
vorbei die Treppen hinauf.
Schnell folgten sie ihm.
„ Als hätte ich sonst
nichts zu tun“, schimpfte Döhring und ließ einen
Schlüsselbund durch seine Finger gleiten. Er hielt sich erst gar
nicht damit auf, nach einem Ausweispapier zu fragen. Ob der Mann, der
da vor ihm stand und sich als Mike Stein ausgab, tatsächlich der
Mieter der Wohnung war, interessierte ihn nicht.
Wütend wollte Wellinger ihn
zur Rede stellen, doch dann hielt er inne. Sie konnten einen
schnellen Blick in die Wohnung werfen, ohne vorher ein umständliches
Prozedere in Gang zu bringen.
Döhring steckte den
Schlüssel ins Schloss und mit einer halben Umdrehung öffnete
er die Tür. Sie war nur ins Schloss gefallen. Niemand hatte sich
die Mühe gemacht, sie ordentlich zu verschließen.
Sofort war Wellinger in
Alarmbereitschaft versetzt. Vorsichtig hielt er seine Nase in die
Wohnung, aber er roch lediglich kaltes Fett. Kein Hauch süßlicher
Verwesung drang zu ihm durch. Der Geruch war unverkennbar, denn
hatte man ihn einmal gerochen, krallte er sich widerwärtig für
alle Zeiten in der Erinnerung fest.
Döhring drehte sich zu ihnen
um und versperrte mit seinem schmächtigen Körper den
Eingangsbereich der Wohnung. Auffordernd hielt er Wellinger die
offene Hand unter die Nase. Der Kommissar fischte einen
Fünfzig-Euro-Schein aus seinem Portemonnaie und drückte ihn
Döhring in die Hand. Mit unbewegtem Gesicht steckte dieser das
Geld in seinen Kittel und verschwand.
„ So ein Arschloch!“
Franziska schaute ihm böse hinterher.
„ Mmh, ein reizender
Zeitgenosse“, stimmte Wellinger zu, hielt sie aber zugleich
zurück, als sie Anstalten machte, die Wohnung zu betreten.
„ Ich gehe zuerst hinein!“
Vorsichtig betrat er die Diele. Das Chaos zeigte ihm, dass schon
jemand vor ihnen in der Wohnung gewesen sein musste. Franziska, die
einen Blick über seine Schulter geworfen hatte, zog hörbar
die Luft ein. Sie ließ sich nicht mehr aufhalten und verschwand
in einem der Zimmer.
„ Wird auch langsam Zeit,
dass sich jemand blicken lässt! Wo ist Mike?“
Wellinger fuhr herum. Wie blöd
konnte man eigentlich sein? Bereits zu Beginn der Ausbildung, brachte
man den jungen Polizeischülern bei, für die eigene
Sicherheit zu sorgen. Man erhöhte damit seine Überlebenschancen
ungemein. Er hatte sich und schlimmer noch Franziska in unnötige
Gefahr begeben. Doch von der schroffen Stimme, schien keine Gefahr
auszugehen. Wellinger sah sich mit einer massigen
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