Die dunkle Seite des Mondes
Fläschchen Perrier, das noch beschlagen war. Sie öffnete die Tür zum Anrichteraum. Durch den Spalt der Tür zur Personalwohnung drang Licht. Evelyne öffnete sie. Die Tür zum Gästezimmer stand offen. Urs’ Kleider lagen auf einem Stuhl. Aus dem Badezimmer drang das Rauschen der Dusche.
Ein fremder Geruch lag im Raum. Er kam von Urs’ Kleidern. Amber? Sandelholz? Patschuli?
Die Dusche wurde abgedreht. Leise verließ Evelyne das Zimmer.
Als Pablo damals erst am Morgen nach Hause kam und nach einem fremden Parfum roch, hatte sie alles falsch gemacht. Sie hatte ihn verhört und gezwungen, sich rettungslos in einem Netz von Lügen zu verstricken. Als er die Aussichtslosigkeit seiner Lage einsah und sich schlafend stellte, hatte sie ihm so lange Zahnputzgläser mit kaltem Wasser über den Kopf geschüttet, bis er aufstand, sich anzog und ging.
Darauf folgten die Wochen der nächtelangen Diskussionen, der Selbstmorddrohungen, Versöhnungen, Trennungen und Wiedervereinigungen. Sie wußte nicht, wie lange der Alptraum gedauert hatte. Aber als er vorbei war, war nichts mehr übrig von dem, was sie einmal füreinander empfunden hatten.
Evelyne war inzwischen achtunddreißig und um einiges klüger geworden. Diesmal würde sie sich nicht benehmen wie eine Kuh.
Sie hörte die Kirchenglocken vier, fünf, sechs und sieben schlagen. Sie stand auf und ließ sich viel Zeit im Bad. Als ob nichts wäre, betrat sie die Küche zum gemeinsamen Frühstück. Der Tisch war leer bis auf einen frischgepreßten Orangensaft und einen Zettel: »Mußte früher raus. Schönen Tag. U.«
3
Die Fusion von CHARADE und ELEGANTSA beherrschte die Schlagzeilen des Tages. Die meisten Kommentatoren waren sich einig, daß sich das Presse-Communiqué wie ein vorauseilendes Dementi las, daß es sich bei der Fusion um eine Übernahme der ELEGANTSA handelte. Mehrere Zeitungen stellten die Person des Dr. Kurt Fluri in den Vordergrund. Die bürgerliche Presse hob seine Verdienste als Wirtschaftsführer und Milizoffizier heraus, die linke stellte die Frage nach seiner Verantwortung für das Ende der ELEGANTSA als unabhängiges Unternehmen. Alle hatten etwas gemeinsam: Sie lasen sich wie Nachrufe.
Alfred Wenger interessierte sich nicht für die Wirtschaftsnachrichten. Auch nicht, wenn sie Schlagzeilen machten. Er war in den Kulturteil der Zeitung vertieft, die ihm Herr Foppa gebracht hatte.
Urs Blank traf mit einer halben Stunde Verspätung ein. »Entschuldige«, sagte er zur Begrüßung und legte eine Packung Räucherstäbchen vor Wenger auf den Tisch.
»Was ist das?«
»Der Grund für meine Verspätung.«
»Räucherstäbchen?«
Zuhören war Alfred Wengers Beruf. Er aß und schwieg. Ganz selten einmal stellte er Urs eine Zwischenfrage. Weniger aus Neugierde, als um ihm Gelegenheit zu geben, seinen Monolog über Lucille für ein paar Bissen seines längst kalt gewordenen Geschnetzelten zu unterbrechen.
Beim Kaffee stellte er ihm die Frage, die ihn am meisten interessierte: »Und Evelyne?«
Blank hob die Hände und ließ sie auf den Tisch sinken. »Sie erwähnt die Sache mit keinem Wort. Sie stellt keine Fragen, macht keine Bemerkungen. Sie tut, als ob nichts wäre. Dabei ist es unmöglich, daß sie nichts mitbekommt. Ich gebe mir keine besondere Mühe, es ihr zu verheimlichen. Im Gegenteil, mir wäre es lieber, es käme zur Sprache.«
Wenger nickte. »Deswegen ignoriert sie es. Sie schließt die Augen und wartet, bis es vorbei ist. Ich kenne Frauen, die so reagieren. Auch Männer.«
»Als ob es ihr egal wäre.«
»Wenn es ihr egal wäre, würde sie dir eine Szene machen. Sie tut es nicht, weil sie spürt, daß sie am kürzeren Hebel sitzt.«
»Früher oder später müssen wir trotzdem reinen Tisch machen. Da kann sie die Augen noch so fest verschließen. Die einzige Sache, die vorbeigehen wird, ist die zwischen Evelyne und mir.«
Die Veränderung, die Lucille in Urs Blanks Leben brachte, war so tiefgreifend, daß er sich plötzlich wieder vorstellen konnte, Huwylers Mandat anzunehmen. Er fühlte sich voller Tatendrang und empfand die Aussicht auf ein Leben zwischen Flohmarktstand und multinationalen Konzernen als Herausforderung. Er stand im Begriff, ein anderer Mensch zu werden, und war gespannt, wie sich dieser andere Urs Blank im Ring der global players bewähren würde.
Blank lud seine Partner zu einer außerordentlichen Partnersitzung ein und berichtete ihnen von Huwylers Mandat. Er hatte das Gefühl, daß sie sich weniger über
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