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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Verlaß dich auf meine Erfahrung.«
    »Und wenn ich ihn doch verliere?«
    »Dann hast du wenigstens die Achtung vor dir selbst behalten.«
    Evelyne tupfte sich vorsichtig die Augen mit der Serviette ab. Dann nahm sie einen Schluck Bier.
    Ruth Zopp machte dem Kellner ein Zeichen, er solle noch zwei bringen. »Schmeiß ihn raus, Evelyne. Es ist eine Frage der Menschenwürde.«
    Urs Blank wußte sofort, was es geschlagen hatte, als er um ein Uhr früh nach Hause kam und Evelyne im hell erleuchteten Wohnzimmer bleich und gefaßt auf dem schwarzen Corbusier-Sofa fand. Er holte sich ein Perrier und setzte sich ihr gegenüber.
    »Ich möchte, daß du ausziehst«, waren ihre ersten Worte.
    Blank nickte. »Verstehe.«
    »Sonst hast du nichts zu sagen?«
    »Daß es mir leid tut.«
    »Ach.«
    »Es hat nichts mit dir zu tun.«
    »Ich nehme an, es ist stärker als du.« Es klang sarkastisch.
    »Wenn du willst, versuche ich es dir zu erklären.«
    Evelyne nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Sie war beim Bier geblieben.
    »Erinnerst du dich an deine Eröffnung, als ich mit den schmutzigen Schuhen kam?«
    »Und meine Kunden mit Arschloch tituliertest?«
    »An diesem Tag hatte ich eine Fusionsverhandlung in der Waldruhe. Plötzlich überkam mich das Gefühl, das alles schon tausendmal erlebt zu haben. Die gleichen Köpfe, die gleichen Sätze, die gleichen Situationen, die gleichen Konstellationen. Nach der Sitzung ging ich zu Fuß durch den Wald. Und mir wurde auf einmal klar, daß ich vergessen hatte, daß so nahe der Stadt eine ganz andere Welt liegt. Mit anderen Gesetzen, anderen Prioritäten, eine Welt, die mit der unseren nicht das geringste zu tun hat.«
    Blank trank einen Schluck von seinem Mineralwasser. »Und am Abend bei deiner Eröffnung war ich wieder in unserer Welt. Dieser Waldspaziergang hat mir die Augen für die anderen Welten geöffnet. Und, was schlimmer ist, auch für unsere. Ich mußte zugeben: Sie genügt mir nicht.«
    Blank war ziemlich stolz auf seinen Monolog. So genau hatte er es noch nie auf den Punkt gebracht.
    Evelyne lächelte. »Das ist Kitsch, Urs. Warum kannst du nicht einfach sagen, daß du scharf auf ein junges Mädchen bist, das dich für den Größten hält?« Sie trank ihr Glas leer. »Hör mir auf mit deinen Welten. Du lebst in der gleichen Welt wie zuvor. Mit dem einzigen Unterschied, daß du jetzt eine junge Freundin hast. Wie jeder Spießer Mitte vierzig, der es sich leisten kann.«
    Am nächsten Tag bezog Blank eine Suite im Imperial. Vom Fenster des Salons sah er auf den kleinen Hotelpark und den Steg, an dem die Kursschiffe anlegten. Das Hotel lag keine zehn Minuten von Kanzlei und Flohmarkt entfernt.
    Er mochte das Hotel. Die angenehme Lobby für ruhige Besprechungen, das hervorragende Restaurant für ungestörte Geschäftsessen, die verschiedenen Säle für stilvolle Pressekonferenzen.
    Geiger, von Berg, Minder & Blank brachten im Imperial ihre internationalen Kunden zu Spezialkonditionen unter. Angesichts der guten Geschäftsbeziehungen und der Zwischensaison überließ die Direktion Blank die Suite für eine Monatspauschale von lediglich zwölftausend Franken.
    Seit dem letzten Tag der Rekrutenschule hatte sich Blank nie mehr so frei gefühlt. Er hatte die Mischung aus Anonymität und Geborgenheit großer Hotels schon immer genossen. Aber dies war ein neues Erlebnis. Ein Fremder in der eigenen Stadt und zu Hause unter Fremden.
    Das Imperial war wie der Stadtwald und der Flohmarkt. Eine eigene Welt mitten in der seinen.
    In der riesigen Lobby waren nur wenige Fauteuils besetzt. Ein paar Gäste warteten auf Besucher, ein paar Besucher auf Gäste. Im Schutze ihrer Ohrenfauteuils verhandelten zwei Herren, von denen nur die Ellbogen sichtbar waren. Zwei junge Kellner standen am Durchgang zur Bar und behielten die Gäste im Auge. Das einzige laute Geräusch war die Stimme einer alten Amerikanerin, die alle paar Augenblicke zu ihrem jüngeren Begleiter sagte: »You tell me when they come – I can’t see that far. «
    Urs Blank saß alleine in einer Sechsergruppe und trank einen Port. Er hatte alle Termine abgesagt und in der Kanzlei seine neue Adresse angegeben, mit der Weisung, sie vertraulich zu behandeln. Er hatte seine Sachen in den begehbaren Schrank geräumt und war viel früher fertiggeworden, als er gedacht hatte.
    Jetzt blieb ihm noch über eine Stunde Zeit, bis er Lucille im Hotelrestaurant traf. Er freute sich darauf, sie nach dem Essen mit seiner Suite zu überraschen. Sie hatten

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