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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Blanks Hand und schaute ihm tief in die Augen. » Ciao, Urs«, sagte er bedeutungsvoll.
    Urs Blank war für seine Verhältnisse bequem gekleidet. Er trug eine karamelbraune Kordhose, die er sich vor fünf Jahren hatte anfertigen lassen. Er hatte einen alten kastanienbraunen Kaschmirpullover über die Schultern geworfen und den obersten Knopf seines weichen Flanellhemdes mit dem Monogramm U.P.B. geöffnet. (Das Initial seines zweiten Vornamens Peter trug er ausschließlich im Monogramm). Auf eine Krawatte hatte er verzichtet.
    Trotzdem befiel ihn das Gefühl, etwas overdressed zu sein, als Joe sie in die niedrige Bauernstube brachte, wo sie von Susi, Benny, Pia und Edwin erwartet wurden.
    Susi war Mitte dreißig und Mittelschullehrerin, Benny höchstens zwanzig und Straßenmusiker, Pia sah aus wie fünfzig und war Hausfrau, Edwin, ihr Mann, arbeitete bei einer Bank.
    Aus der Art, wie er bei der Vorstellung die Heterogenität des Grüppchens herunterspielte, schloß Blank, daß sie Joe besonders am Herzen lag. Auch seinen Background – »prominenter Wirtschaftsanwalt oder so« – erwähnte er mit der gleichen nachdrücklichen Beiläufigkeit.
    Urs Blank hatte sich auf ein meditatives Experiment gefaßt gemacht. Lucilles Andeutungen und ihre Anweisung, am Tag zuvor nichts als leichte Gemüsebouillon zu sich zu nehmen, deuteten in diese Richtung. Aber jetzt, wo Joe »für die, die das erste Mal dabei sind«, die Spielregeln erklärte, wurde ihm klar, daß er in einem Pilzzirkel gelandet war.
    »Das Ritual, das uns bevorsteht, ist so alt wie die Menschheit selbst. Auf Felszeichnungen in der Sahara wurden Darstellungen von Menschen mit Pilzköpfen gefunden, sibirische Schamanen brauchten Pilze, um den Weg in die geistige Welt zu erleuchten, die Azteken versetzten sich mit halluzinogenen Pilzen in einen Zustand, den sie den blumigen Traum nannten. Und ein abtrünniger Jesuit namens John Allegro ging so weit zu behaupten, das Christentum gehe auf einen Fliegenpilz-Kult zurück.«
    Joe sprach wie ein Fremdenführer, der seinen Text im Schlaf kennt. »Wie alles, was die Menschheit ein Stück weiterbringen würde, ist natürlich auch der Konsum von psilocybin- und psilozinhaltigen Pilzen bei uns verboten. Ich muß euch also bitten, zu versprechen, daß ihr niemandem sagt, wer dieses Ritual organisiert hat und woher die Pilze stammen.«
    Erst als jedes Mitglied der Runde beflissen genickt hatte, fuhr er fort. »Ihr haltet euch an meine Anweisungen, ihr verlaßt die Gruppe nur in Notfällen, ihr handelt auf eigenes Risiko.«
    Auch das ließ er sich von der Runde durch Kopfnicken bestätigen. Urs Blank fragte sich, was er hier verloren hatte.
    Die gleiche Frage stellte er sich, als er Joe und dem beschwingten Wandergrüppchen mit Sack und Pack durch den Wald folgte. Er hatte nichts mit diesen Leuten zu tun. Sogar Lucille, die atemlos plaudernd neben Joe den steilen Waldweg hinaufstieg, kam ihm fremd vor.
    Sie erreichten eine Lichtung, die an eine steile Felswand grenzte. Ein Wasserfall gischte von weit oben über die Felsvorsprünge in ein Bassin. Von dort aus floß ein Bach durch die Lichtung. In ihrer Mitte war ein großes Tipi aufgebaut, aus dem ein dünner Rauchfaden stieg. Etwas näher beim Wasserfall stand ein Verschlag aus rohen Brettern, dessen Eingang mit einer Wolldecke verhängt war.
    »Shiva!« rief Joe.
    Aus dem Zelt kam ein Mädchen mit weißblonden Haaren. Sie trug ein Kleid aus Waschleder mit langen Fransen, wie eine Squaw. Als sie näher kamen, sah Blank, daß sie eine ältere Frau war. »Shiva«, sagte Joe. »Unsere Reiseführerin.« Sie begrüßte Blank mit dem bedeutungsvollen Händedruck, den er bereits von Joe kannte.
    In der Mitte des Tipi brannte ein Feuer, das von einem Kreis aus faustgroßen Steinen eingefaßt war. Sie ließen sich daran nieder. Shiva gab ihnen im Tonfall einer Sonntagsschullehrerin letzte Anweisungen. Sie sagte Sätze wie: »Versucht alle, die kritisierende, urteilende innere Instanz auszuschalten und den Prozeß zu erleben, ohne ihn zu früh analysieren zu wollen.«
    Shiva war Blank auf Anhieb unsympathisch. Er war froh, als Joe ihn bat, ihm zu helfen, die heißen Steine von der Feuerstelle in die Holzhütte zu bringen. Joe füllte sie mit einer Feuerzange in einen alten Kohleneimer, Urs trug diesen in die Hütte und kippte ihn in das Loch in der Mitte.
    Der Beginn des Rituals übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Er hatte gerade die letzte Ladung Steine ausgekippt und kam mit dem

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