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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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vergnügt die Rechnung zuschob.
    Am Nachmittag versuchte Blank an Huwylers Großfusion zu arbeiten. Aber obwohl er beim Mittagessen an von Bergs Weinen nur genippt hatte, fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er brauchte über zwei Stunden für das Protokoll der Sitzung vom Vortag und den Zeit- und Maßnahmenplan. Als er die erste Fassung aus dem Drucker nahm, rief Lucille an.
    »Wenn ich die Plakate jetzt abhole, kann ich sie an den Tramstationen aushängen, bevor die Leute von der Arbeit kommen.«
    Blank brauchte einen Moment, bis er verstand, welche Plakate sie meinte. In einer Viertelstunde lägen sie bereit, versprach er, der Kopierer sei ausgefallen.
    Er hatte seit dem Betreten der Kanzlei keinen Gedanken an das tote Kätzchen verschwendet. Als er Lucilles Vorlage aus der Mappe nahm, erschrak er. Neben dem Wort TROLL , so dicht, daß er das letzte L verdeckte, war ein Fleck, wie von eingetrocknetem Blut.
    Blank holte sich bei seiner Sekretärin eine Schere und schnitt den Fleck aus. Er klebte die Vorlage auf ein weißes Papier, malte das letzte L neu, legte sie in den Fotokopierer und stellte den Zähler auf hundertsechzig Kopien.
    »Brauchen Sie Hilfe?« fragte hinter ihm eine Stimme. Es war Christoph Gerber. Blank reagierte nicht. Er wartete, bis der Kopierer das letzte Plakat ausgespuckt hatte, griff sich das Bündel Kopien und ging in sein Büro.
    Kaum hatte er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt, klopfte es schüchtern. »Ja?« rief Blank.
    Gerber kam herein. In der Hand hielt er das Original des Plakätchens. »Sie haben das hier im Kopierer vergessen«, stammelte er.
    »Raus!« schrie Blank. »Was hast du hier noch verloren? Verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist, du Arschkriecher! Raus!« Gerber legte erschrocken das kleine Plakat auf ein Aktenschränkchen neben der Tür und versuchte Blanks Büro mit Würde zu verlassen.
    Hinter ihm kam die verdatterte Lucille zum Vorschein. Sie hatte Urs Blank noch nie so gesehen.
    »Entschuldige«, sagte er. »Komm doch rein.«
    »Wer war das?«
    »Mein ehemaliger Assistent.«
    »Was hat er getan?«
    Blank nahm das Original des Steckbriefes vom Aktenschränkchen und zeigte ihr die reparierte Stelle.
    »Und deswegen schreist du so herum?«
    »Nicht nur deswegen.« Blank half Lucille den Packen Kopien in ihrem kleinen indonesischen Rucksack zu verstauen. »Das hat jetzt einfach das Faß zum Überlaufen gebracht.«
    Lucille zog den Rucksack an. »Kommst du dann auch?«
    »Ich muß hier noch etwas fertigmachen, dann komme ich.«
    »Glaubst du, er kommt wieder zurück?« Sie stand jetzt genau neben der Mappe mit dem toten Troll. Blank hatte vergessen, sie zu schließen. Er legte den Arm um sie und führte sie zur Tür. »Bestimmt ist er schon in der Wohnung, wenn du zurückkommst.«
    Der Boden des Stadtwaldes war bedeckt mit einer Schicht rötlicher Knospenhüllen. Die Buchen hatten ihre flaumigen Blätter entrollt und machten sich daran, das Kronendach zu schließen. Blank parkte den Jaguar auf dem Parkplatz der Waldruhe und ging zu Fuß weiter. Die Sonne stand tief und blitzte da und dort durch das junge Laub. Er war nicht der einzige, den der schöne Frühlingsnachmittag in den Wald gelockt hatte. Die Spaziergänger grüßten ihn wie den Mitbürger eines kleinen Dorfes. Vielleicht wunderten sie sich über Blanks Anzug, der nicht für Waldspaziergänge geschaffen war. Und vielleicht fragten sie sich, warum er im Wald eine Mappe trug.
    Blank bog in einen Forstweg ein. Nach fünfzig Metern war er außer Sicht der Spaziergänger. Er öffnete die Mappe und kippte ihren Inhalt in den Bärlauch am Wegrand: Eine Zeitung von gestern, drei Klarsichtmäppchen mit Protokollen und Memoranden, ein Satz Leuchtstifte, eine Rolle Pfefferminzbonbons, eine Schachtel Räucherstäbchen Ylang-Ylang, ein Palmtop, ein Handy, ein totes graues Kätzchen.
    Er packte seine Sachen zurück in die Mappe. Den steifen Troll, der mit verdrehtem Kopf und seltsam struppigem Fell übrigblieb, deckte er mit ein paar Zweigen zu. Dann ging er weiter.
    Die Sonnenflecken auf dem Waldboden erloschen, die Dämmerung füllte die Abstände zwischen den Buchenstämmen. Hoch oben begann eine Drossel ihre drei Refrains zu singen.
    Urs Blank fuhr auf der alten Landstraße auf einem Umweg zurück in die Stadt. Er hatte lange gebraucht, bis er zur Waldruhe zurückgefunden hatte. Als er endlich wieder hinter dem Steuer saß, beschloß er, die Begegnung mit Lucille und ihren Sorgen noch ein wenig

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