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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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alte Dame, zu der er gehörte.
    Blank ließ den Hals des Journalisten mit einem Lächeln los. Er nahm seine Serviette und putzte ihm den Rahmschnurrbart von der Oberlippe.
    Die alte Dame lachte. Der Dackel hörte auf zu bellen. Pedro Müller war sicher, daß das Tier ihm das Leben gerettet hatte.
    Blank erwachte mit einem schlechten Gewissen. Erst als er die Zeitung aufschlug, die man ihm mit dem Frühstück gebracht hatte, wußte er wieder, warum. Sie enthielt zweieinhalb Seiten Todesanzeigen für Dr. Kurt Fluri. Sein Bataillon, seine Verbindung, seine Zunft, seine Partei, sein Schützenverein, der Alpenclub, der Arbeitgeberverband, Direktion und Mitarbeiter von CHARADE , die Familie. Der einzige Hinweis auf einen möglichen Selbstmord waren Adjektive wie plötzlich, jäh und unerwartet.
    In der Dusche erinnerte er sich an die anderen Gründe, ein schlechtes Gewissen zu haben: Lucille, Troll, Evelyne, Christoph Gerber, Huwyler, Pedro Müller, ein vierundzwanzigjähriger Maschinenbauzeichner und ein siebenundsechzigjähriger Handharmonikaspieler auf dem Weg zu einem bunten Abend.
    Er ging ins Büro und versuchte zu arbeiten. Aber er saß wie gelähmt hinter seinem Schreibtisch. Seine Hände waren zu schwer für seine Arme, und seine Beine hatten keine Lust, seinen Körper zu tragen. Jeder Gedanke, den er faßte, blieb in seinem Hirn hängen und wurde repetiert wie von einer defekten CD . Er schaltete den Computer ein und begann an einem Vertrag zu arbeiten. Aber das Blinken des Cursors hypnotisierte ihn.
    Ein Anruf von Huwyler riß ihn aus seiner Apathie.
    »Was haben Sie mit dem Journalisten gemacht? Der hat mich angerufen und sich entschuldigt.«
    »Anwaltsgeheimnis«, antwortete Blank.
    »Wenn Sie so weitermachen, fällt mir auch wieder ein, weshalb ich die Sache mit Ihnen durchziehen wollte. Alle Achtung, Doktor Blank.«
    Um elf hatte er einen Termin bei Alfred Wenger. Den ersten offiziellen Psychiatertermin seines Lebens.
    Eine verhuschte junge Frau kam gerade aus dem Sprechzimmer, als die Praxishilfe ihn ins Wartezimmer brachte. Kurz darauf bat Alfred Wenger ihn zu sich.
    »Wie fühlst du dich?« war seine erste Frage, als sie im Sprechzimmer Platz genommen hatten.
    Blank beschrieb es ihm.
    »Depression«, stellte Wenger fest.
    »Aber wenigstens weiß ich, woher.« Er erzählte ihm von Dr. Fluris Selbstmord und der Rolle, die er glaubte, dabei gespielt zu haben.
    »Das war doch vor deinem ersten Trip, nicht wahr?«
    »Das ist es ja. Ich habe seit Samstag ein schlechtes Gewissen wegen Dingen, die ich vor dem Trip tat, der mich jetzt noch schlimmere Dinge tun läßt. Ich benehme mich wie vor deiner Therapie. Neu ist nur, daß ich mich schlecht dabei fühle.«
    Blank beichtete Wenger seine Begegnung mit Pedro Müller. Daß er bei seiner Drohung handgreiflich wurde, erwähnte er nicht.
    Wenger suchte nach einer Formulierung. »Wir haben es nicht geschafft, das Böse in das Gute zu verwandeln. Und das Gute, das du dem Bösen entgegensetzt, ist nicht stark genug.«
    »Das Gute gegen das Böse. Du klingst wie ein Pfarrer.«
    »Wie ein Psychiater.«
    Blank blieb ernst. »Ganz ehrlich: Hast du das schon einmal erlebt, daß ein psychedelischer Trip jemanden in ein Monster verwandelt?«
    »Die Psychiatrie kennt keine Monster.«
    »Du weißt, was ich meine.«
    »Ich selbst habe es noch nie erlebt.«
    »Und andere?«
    »Ich bin noch am Suchen.«
    »Seit wann suchst du?«
    Wenger wurde verlegen. »Seit unserem ersten Gespräch.«
    »Also seit beinahe einer Woche.«
    »Es gibt schon Beispiele. Aber alle betreffen das Verhalten während des Trips. Und bei keinem ist nur Psilocybin beteiligt.«
    »Sondern?«
    »Man kennt Fälle, in denen Leute, die zusätzlich Amphetamine oder Heroin, Kokain oder Crack nahmen, während des Trips gewalttätig wurden. Und man kennt Persönlichkeitsveränderungen nach Exzessen mit anderen Drogen.«
    »Ich habe nur Pilze genommen.«
    »Ich weiß.«
    »Was schlägst du vor?«
    »Eine Analyse.«
    Blank schaute seinen Freund ungläubig an. »Eine Psychoanalyse?«
    »Bei einem Kollegen.«
    »Dauert etwa zwanzig Jahre, wenn ich richtig informiert bin.«
    »In deinem Fall glaube ich nicht.«
    »Weil sie mich vorher einsperren?«
    Wenger verbrachte den Rest der Sprechstunde damit, Blank auseinanderzusetzen, weshalb er es für das beste hielt, eine Analyse zu machen. Als er fertig war, versprach ihm Blank, sich den Vorschlag ernsthaft zu überlegen.
    Bevor sie sich verabschiedeten, sagte Wenger: »Eine

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