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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Rattenfänger zum Waldrand.
    Als Lucille nachkommen wollte, schickte Wenger sie mit einer gebieterischen Handbewegung zurück.
    Das Licht in Urs’ gläsernem Körper hatte sich in Gas verwandelt. Jetzt schwebte er. Es trug ihn über die Wiese zum Waldrand.
    Der Wald war gefüllt mit Wasser. Die Tannen und Fichten wogten wie Algen, der Farn war Seetang, das Moos Korallen. Urs glitt durch die Unterwasserlandschaft wie ein Taucher. Er folgte den Luftblasen des Tauchers vor ihm. Er konnte sie sehen und hören.
    Er ließ sich auf dem Meeresgrund nieder. Sofort wurde er Teil davon. Er wiegte sich mit dem Farn, dem Moos, den Zweigen in der sanften Strömung. Er besaß keinerlei Macht über sie. Aber er begriff sie. Er durchschaute ihre Molekularstruktur und spürte sogar, wie sie assimilierten.
    »Sind sie da?« flüsterte eine Stimme neben ihm. Es war der andere Taucher. Alfred. »Versuch jetzt, sie abzurufen.«
    Wenger mußte den Verstand verloren haben. Blank legte den Arm um ihn. Er spürte seinen Herzschlag, sein Atmen, die Zellen, die sich teilten.
    Ein Eichelhäher flog herbei. Setzte sich auf einen Ast, flog weiter. Urs schaute ihm nach. Er verstand, weshalb ihn seine Flügel trugen, sah die Luftströmungen wie in einem Windkanal.
    Urs war ein Teilchen des Universums. Und er wußte genau, welches.
    Jetzt erklang eine Stimme, die nicht zum Universum gehörte. Die Stimme eines Engels. Sie sang:
     
Lux aeterna luceat eis, Domine:
Cum sanctis tuis in aeternum,
quia pius es.
Requiem aeternam dona eis, Domine
et lux aeterna luceat eis.
Cum sanctis tuis in aeternum,
quia pius es.
    Urs’ Gesicht war naß von Tränen. »Amen«, sagte er.
    Als Urs Blank nicht zu bewegen war, wie beim ersten Mal die Schellentrommel zu nehmen und damit in den Wald zu gehen, sprang Alfred Wenger für ihn ein. Es funktionierte. Blank folgte dem Rasseln und Klopfen wie hypnotisiert. Er ließ sich ein ganzes Stück weit in den Wald führen.
    Als er stehenblieb und sich auf einen bemoosten Strunk setzte, ließ sich Wenger neben ihm nieder. Blank war nicht ansprechbar. Aber er schien glücklich. Mehr noch: erleuchtet.
    Ein paar Mal versuchte Wenger, Einfluß auf Blanks Trip zu nehmen. Er wollte ihn an die Stelle führen, an der er begann, sich den Wald und die Welt zu unterwerfen. Sie hatten das eingehend besprochen. Wenger würde ihm helfen, im entscheidenden Moment das Gegenteil von dem zu tun, was er das erste Mal getan hatte. Aber dazu mußte Wenger wissen, wann Blank an diesem Punkt angelangt war.
    »Sind sie da?« flüsterte er.
    Urs saß einfach da und staunte. Anstatt zu antworten, legte er den Arm um ihn. So saßen sie beinahe eine Stunde lang.
    Plötzlich fing Blank an zu singen. So falsch, wie nur er es konnte. Lux aeterna aus Verdis Requiem, wenn Wenger sich nicht irrte.
    Blank saß auf dem Beifahrersitz von Wengers Volvo und erzählte von seinem Trip. Er war früh am Morgen in seinem Schlafsack erwacht und hatte sich ausgeruht und unternehmungslustig gefühlt. Die anderen hatten noch geschlafen. Er war aufgestanden, leise, um niemanden zu wecken, und vor das Tipi getreten. Die Sonne hatte gerade die obersten Wipfel des Waldes erreicht und ließ den Morgentau der Stoppelwiese auffunkeln. Er ging barfuß durch das nasse Gras zum Wasserfall. Er zog den Trainingsanzug aus und ließ sich in das Bassin gleiten. Die Kälte des Wassers verschlug ihm den Atem. Er tauchte und öffnete die Augen.
    Unscharf sah er das Grün der Algen und das Weiß seines Körpers. Er tauchte auf, kletterte schlotternd aus dem Wasser und trocknete sich mit dem Oberteil des Trainingsanzuges ab. Er schlüpfte in die Hose und begann, in einem weiten Kreis um das Tipi zu rennen. Er achtete nicht auf die Stoppeln und Steine, die seine an Maßschuhe gewöhnten Fußsohlen malträtierten.
    Als Wenger, Joe und Shiva aus dem Tipi krochen, hatte Blank Feuer gemacht und Kaffee gekocht. Er empfing sie mit ungeheuchelter Herzlichkeit und störte sich weder an Joes Schweißgeruch noch an Shivas verquollenem Gesicht.
    Lucille schlief noch, als sie fertig gefrühstückt hatten. Er weckte sie behutsam mit einer Tasse Kaffee und half ihr, zu sich zu kommen. Nun schlief sie tief auf dem Rücksitz.
    Blank konnte sich sehr genau an die Details seines Trips erinnern. Er wußte, welche tiefen Einsichten über das Universum er gewonnen hatte. Nur konnte er sie nicht weitergeben. Als er auf die Engelsstimme zu sprechen kam, spürte er, wie bewegt er immer noch war.
    »Psilocybin

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