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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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waren große und mittlere getrocknete Pilze. Das andere kleine.
    »Größere und kleinere spitzkegelige Kahlköpfe oder Zwergenhütchen«, kommentierte Joe.
    »Und die ganz winzigen?«
    »Welche ganz winzigen?«
    »Beim ersten Mal hatte ich einen ganz winzigen. Viel kleiner als die Kleinen hier.« Blank griff zum Topflappen.
    Joe zögerte. »Es gab nur einen einzigen winzigen.«
    »Den hatte ich.«
    »Einen ganz winzigen? Wie ein Daumennagel?«
    »Höchstens wie ein Daumennagel.«
    Joe seufzte.
    »Was war das?«
    Joe zuckte die Schultern. Blank nahm den Krug vom Herd. »Ich weiß es nicht!« schrie Joe.
    Blank hielt den Krug über ihn. »Ein Bläuling, ein Bläuling«, stieß Joe hervor.
    »Was ist ein Bläuling?«
    »Ein sehr seltener Pilz.«
    »Wie selten?«
    Joe zögerte. Blank goß Kaffee auf den Boden. Dicht neben Joes Bein.
    »Es war der erste, den ich gesehen habe«, stammelte Joe.
    »Und woher wußtest du, wie er wirkt?«
    »Ich wußte es nicht. Ich wollte es ausprobieren. Ein Versehen. Shiva hatte ihn zu den anderen gelegt.«
    »Weißt du von anderen Leuten, wie er wirkt?«
    Joe schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe nichts darüber gefunden.«
    »Und woher weißt du, daß er Psilocybin enthält?«
    Joe begann zu weinen. »Er sah so aus.«
    »Und woher kennst du seinen Namen?« Blank schrie es fast.
    »Den habe ich ihm gegeben.«
    Am Nachmittag saß Urs Blank wieder an seinem Schreibtisch. Er hatte die Bürotür geschlossen und durfte nicht gestört werden. Vor ihm lag ein Buch mit dem Titel: Pilze bestimmen. Ein paar Seiten waren mit selbstklebenden Notizzetteln markiert. Immer wieder schaute er auf ein Stück Papier, das aus einem kleinen Ringblock herausgerissen war. Darauf ein paar Notizen in Joes fahriger Handschrift:
     
»Bläuling«
Hut: 7–9 mm, zyanblau, schleimig glänzend, spitz gebuckelt, gerieft.
Lamellen: safrangelb, am Stiel frei.
Stiel: hutfarben, 2–3 cm, schlank, gebrechlich.
Fleisch: lamellenfarben, Geruch leicht unangenehm.
Sporen: Sporenpulver rosa.
Vorkommen: Rubliholz?
    Blank fand einen Riesenbläuling, peziza varia. Aber er war ockergelb bis braun, besaß einen Durchmesser von zweieinhalb bis zwanzig Zentimeter und galt als eßbar, wenn auch nicht als besonders schmackhaft.
    Der einzige Pilz, der Joes Beschreibung einigermaßen entsprach, war der stahlblaue Rötling. Stahlblau und Zyanblau konnten Ansichtssache sein. Und die Lamellen – fleischfarben bis rosa beim einen, safrangelb beim anderen – kamen sich auch sehr nahe. Aber auch hier war der Hutdurchmesser das Problem. Zwei bis fünf Zentimeter. Statt sieben bis neun Millimeter.
    Blank verstand nichts von Pilzen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, daß sie ganz jung um so viel kleiner waren als im ausgewachsenen Stadium.
    Er hatte noch ein paar andere Exemplare markiert: Blauer Klumpfuß, Grünspanträuschling, Blauer Saftporling. Aber außer der Farbe hatten sie nicht die geringste Gemeinsamkeit mit dem Bläuling.
    Joe hatte ihm wenig über den Fundort des Pilzes sagen können. Im vergangenen Herbst hatte er wie jedes Jahr eine alternative Pilzexkursion organisiert. Am Abend bei der Pilzkontrolle befand sich der Pilz unter der chaotischen Ausbeute der jungen Leute. Niemand wußte mehr genau, wer ihn gefunden hatte. Joe war sich nicht einmal ganz sicher, wo sie an diesem Tag gesucht hatten. Vielleicht im Rubliholz, einem Mischwald in der Umgebung, den er Blank auf der Karte zeigte. Vielleicht aber auch nicht. Die Gruppe hatte die Exkursion mit einem unvergeßlichen Pilzritual abgeschlossen. Dieses war etwas von dem wenigen, das ihm aus jenen Tagen unvergeßlich geblieben war.
    Der Blutmilchpilz und die gelbe Lohblüte, zwei ungenießbare Schleimpilze, bildeten den Abschluß des Buches. Er hatte darin keinen einzigen Hinweis auf einen winzigen zyanblauen Pilz gefunden.
    Blank stand auf und packte das Pilzbuch in seine Aktentasche. Er mußte hier raus, bevor dieses lähmende Gefühl von Reue sich seiner ganz bemächtigte.
    Rolf Blaser, grauer Bürstenschnitt, schlechte Zähne, saß im blauen Opel und notierte sich Stichworte für sein Protokoll. Der Dienstwagen war der einzige Ort, wo er niemandem im Weg stand. Der ganze Vorplatz war verstellt von Löschfahrzeugen, Schläuchen, Pumpen, Generatoren, Autos und Traktoren.
    Als der Bauer des nächsten Hofes die Rauchsäule über dem Wald gesehen hatte, hatte er vorsorglich die Gemeindefeuerwehr alarmiert. Dann hatte er die Feuerwehruniform angezogen, sich in seinen Landrover

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