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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Jägerangewohnheit. Frühmorgens auf dem Hochstand sitzen und den Waldrand beobachten. Und da sehe ich Sie eben in den Wald gehen. Der Wald ist ein guter Anfang, wenn Sie das Leben verlängern wollen. In ihm finden Sie beides gleichzeitig. Stillstand und Veränderung.«
    »Deswegen jagen Sie?« Blank war froh über seine Gelassenheit.
    »Nicht wegen dem Wald. Ich jage auch in der Steppe und im Eis. Aber ich tue es ebenfalls, um das Leben zu verlängern.«
    »Wie das?«
    »Über Tod oder Leben bestimmen kommt dem Zustand der Unsterblichkeit sehr nahe.«
    Es klopfte. Zwei Kellner schoben einen Servierwagen herein. Ott und Blank setzten sich und ließen sich das Essen servieren. Gemischte Frühlingssalate, hausgemachte Nudeln und die Pilze mit etwas Zwiebeln und Knoblauch gedünstet.
    »Nehmen Sie einen Schluck Bordeaux?« fragte Ott. Blank lehnte ab.
    Sein Gastgeber hatte recht gehabt. Die Pilze waren eine Delikatesse. Als Blank den Teller geleert hatte, fragte er: »Sind die so selten, daß man sie nicht öfter bekommt?«
    »Nein, der Faltentintling kommt relativ häufig vor. Daß er selten gegessen wird, hat eine andere Bewandtnis. Er verträgt sich schlecht mit Alkohol.«
    »Wie äußert sich das?«
    »Rötung der Gesichtshaut, die allmählich ins Violett übergeht und sich auf dem ganzen Körper ausbreitet. Nur Nasenspitze und Ohrläppchen bleiben merkwürdigerweise blaß. Hitzegefühl, Herzklopfen, Sprach- und Sehstörungen. Die Symptome treten auf, wenn man zwei Tage zuvor oder während der Mahlzeit auch nur kleine Mengen Alkohol zu sich genommen hat. Und sie kehren zurück, wenn man zwei Tage danach Alkohol zu sich nimmt.« Ott lächelte. »Gut, daß Sie nichts trinken.«
    »Woher wußten Sie das?«
    »Ich wußte es nicht.«
    Blank spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. »Sie ließen es darauf ankommen?«
    »Ich war mir ziemlich sicher.«
    »Wie konnten Sie ziemlich sicher sein?« Blanks Stimme war laut geworden.
    »Ich bin ein guter Menschenkenner.«
    »Sie testen Ihre Menschenkenntnis mit Giftpilzen?«
    Je wütender Blank wurde, desto ruhiger wurde Ott. »Ich sage ja, ich war mir sicher. Ich habe von mir auf Sie geschlossen. Wir haben dieselben Instinkte. Wir sind uns sehr ähnlich.«
    Blanks Faust flog in Otts Gesicht. Sofort begann aus dessen rechtem Nasenloch Blut zu fließen. Er kümmerte sich nicht darum. Er blieb sitzen und schaute Blank in die Augen.
    Als Blank zum zweiten Schlag ausholte, hob Ott die rechte Hand. Er hatte ein Jagdmesser. Blank stand vom Tisch auf und trat einen Schritt zurück. Ott tropfte das Blut vom Kinn auf das weiße Hemd. Er lächelte.
    Blank verließ das Zimmer.
    Ott blieb reglos und aufrecht sitzen, die Hände links und rechts vom Teller.
    Er hatte sich getäuscht in Blank. Er war nicht so wie er. Er hatte sich nicht unter Kontrolle.
    Ott verbot sich, die Serviette auf die Nase zu pressen oder das Bad aufzusuchen. Er würde einfach hier sitzen und warten, bis sein Körper das Blut von selbst stillte. Er wartete und fragte sich, ob Blank wohl ahnte, wie groß der Fehler war, den er soeben begangen hatte.
    Blank hatte seinen Pilzatlas ins Eschengut mitgenommen. Es stimmte, was Ott über den Faltentintling (coprinus atramentarius) gesagt hatte. Der Verfasser des Führers ging noch weiter. Er warnte vor tödlich verlaufenden Kreislaufkollapsen. Blank strich die Stelle wütend an und schrieb an den Seitenrand: »Pius Otts Scherzpilz!«
    Das Schuldgefühl stellte sich diesmal nicht ein. Als er Alfred Wenger bei ihren regelmäßigen Telefongesprächen darüber berichtete, hielt der es für ein gutes Zeichen. »Dein Unterbewußtsein scheint wieder unterscheiden gelernt zu haben. Einem Mann, der dich fast vergiftet, die Nase einzuschlagen halte ich für eine ausgesprochen gesunde Reaktion.«
    Gleich nach seiner Entlassung aus dem Eschengut traf sich Pius Ott mit Blanks Partner Geiger in der Lobby des Imperial und eröffnete ihm, daß er beabsichtige, in Zukunft exklusiv mit Geiger, von Berg, Minder & Blank zu arbeiten. Man besprach ein paar Kernfragen und delegierte die Details der Übergabe an die zuständigen Ebenen. Blank wurde mit keinem Wort erwähnt.
    In Blanks Zimmer stapelten sich Bücher und Nachschlagewerke, die er sich hatte kommen lassen. Alles, was mit dem Wald zu tun hatte: Waldgemeinschaften, Forstwirtschaft, Baumkunde, Pflanzenkunde, Pilzkunde, Naturschutz, Wildkunde, Wildhege, Jagdpraxis.
    Er büffelte »Wald«, wie er seit seiner Studienzeit nicht mehr gebüffelt

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