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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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hatte. Aber es fiel ihm nicht schwer. Im Gegensatz zum Recht faszinierte ihn das Fach. Er war wie besessen vom Wald.
    Im Wald war er weder gut noch böse, wie jede Kreatur.
    In der dritten Woche seines Aufenthalts überraschte ihn Evelyne mit einem Besuch. Er stand wie immer beim ersten Morgengrauen am Fenster und hörte den Vögeln zu, als das Konzert durch ein Motorengeräusch gestört wurde. Er erkannte den alten silbergrauen Alfa von Evelyne. Sie parkte vor dem Eingang, schaltete die Scheinwerfer aus und wartete.
    Blank wartete auch. Der Streifen über den Wipfeln wurde heller. Evelyne rührte sich nicht. Blank sah ein, daß er der Begegnung nicht aus dem Weg gehen konnte, wenn er nicht den Morgen im Wald verpassen wollte.
    Als er aus der Tür trat, stieg Evelyne aus dem Wagen und kam ihm entgegen. »Alfred hat mir gesagt, daß du immer um diese Zeit in den Wald gehst.«
    Sie trug Wanderschuhe, Keilhosen und eine schwarze Lodenjacke mit Hirschhornknöpfen. Blank verfluchte Alfred Wenger.
    »Nimmst du mich mit?«
    »Ich gehe nicht auf den Wegen.«
    »Ich habe gute Schuhe.«
    »Ich gehe schnell.«
    »Ich bin fit.«
    Sie gingen los. Vorbei am Bauernhof und dem Gemüsegarten Richtung Waldrand.
    »Was tust du im Wald?«
    »Schauen, hören, riechen. Schweigen.« Er beschleunigte sein Tempo.
    Sie erreichten den Waldrand. Vor ihnen verlor sich der Weg im frühen Dämmerlicht. Blank ging weiter. In den Augenwinkeln sah er Evelyne, außer Atem, unsicher, beflissen. An der ersten Stelle, an der er normalerweise den Weg verließ, ging er vorbei. An der zweiten ebenfalls. An der dritten blieb er stehen. »Es geht nicht.«
    »Was?«
    »Geh zurück.«
    Evelyne sah ihn fassungslos an.
    »Hau ab!« schrie er. Sie wich einen Schritt zurück.
    Er ging einen Schritt auf sie zu. »Hau ab!« Sie wich wieder zurück.
    Er nahm einen Stein vom Boden und holte aus. Jetzt begann sie zu rennen. Er rannte ihr nach. »Hau ab! Hau ab!«
    Evelyne rannte jetzt, so schnell sie konnte. Blank blieb stehen. »Lauf! Lauf um dein Leben!« schrie er.
    Gegen Abend tauchte er ganz gelöst in der Küche des Eschenguts auf. Der Küchenchef hatte ihm dort – ungern und nur auf Intervention der Klinikleitung – einen Teil eines Herdes, ein paar Pfannen und einen Tisch überlassen. An einer Stelle, wo er nicht im Weg war. Dort bereitete Blank seine seltsamen Mahlzeiten aus selbstgepflückten Pilzen und Waldgemüsen zu.
    Heute hatte er zum ersten Mal Morcheln gefunden. Er hatte gelesen, daß Morcheln die Nähe der Eschen lieben. Aber bis heute hatte er vergeblich nach ihnen gesucht. Und heute fünfzehn Maimorcheln! An der Stelle, an der er sie gefunden hatte, gab es noch mehr.
    Er putzte die Pilze, säuberte sie mit einem Konditor-Pinsel, halbierte die kleinen und vierteilte die größeren.
    Er wusch und zerkleinerte die jungen Blätter der Rapunzel, die er im Unterholz geerntet hatte. Dann machte er in einer Bratpfanne Butter heiß, briet die Morcheln, salzte und pfefferte sie, kippte das Brett voller Rapunzelblätter dazu und dünstete alles zugedeckt ein paar Minuten.
    Er richtete das Pilzgericht auf einem heißen Teller an und garnierte es mit ein paar zarten Geißfußblättern. Er bedeckte den Teller mit einer Cloche, stellte ihn auf ein Tablett und trug ihn aus der Küche.
    Als er sein Zimmer betrat, saß Alfred Wenger an seinem Schreibtisch und blätterte im Pilzatlas.
    »Wenn du dich angemeldet hättest, hätte ich mehr Morcheln genommen«, sagte Blank.
    »Ich habe schon gegessen.«
    »Morcheln mit Rapunzel und Geißfußblatt. Bekommst du nirgends auf der Welt.«
    Wenger schüttelte den Kopf. Blank deckte den Tisch, setzte sich, nahm die Cloche ab und aß. Langsam und mit Bedacht.
    Wenger studierte ihn dabei. »Drohst du jetzt Frauen mit dem Tod?«
    Blank sprach erst, als der Teller leer war. »Schickst du mir jetzt meine Probleme um fünf Uhr morgens in die Therapie?«
    »Das war wohl keine gute Idee gewesen.«
    »Das kannst du laut sagen. Ich habe Evelyne nicht mit dem Tod gedroht. Ich habe sie nur etwas nachdrücklich davongejagt.«
    »Mit Steinen beworfen?«
    »So getan als ob.«
    »›Lauf um dein Leben!‹ geschrien?«
    »War nicht so gemeint. Verstehst du nicht?«
    Wenger war sehr ernst. »Erklär’s mir.«
    Blank überlegte. »Der Wald ist meine Intimsphäre. Evelyne ist in meine Intimsphäre eingedrungen.«
    Blank war noch nicht zufrieden mit seiner Erklärung. Der entscheidende Punkt fehlte:
    »Und das wollte sie. Das hat sie immer

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