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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Hüte, die von hellem Grau bis in dunkles Graublau verliefen. Erst als er sich niederkauerte, merkte er, daß es Pilze waren. Er löste einen aus dem lockeren Waldboden. Der Hut war glockig, sein Rand faltig wie alte Haut. Der Stiel war hellgrau, aber vielleicht hätte man ihn auch als hellblau bezeichnen können. An der Basis besaß er einen Wulst, etwas, das in der Beschreibung des Bläulings nicht vorkam. Auch war er bedeutend größer. Die jungen Exemplare sahen aus wie graue Eier an Stielen.
    Blank riß das ganze Grüppchen aus und packte es sorgfältig in sein Taschentuch.
    Da, wo der Weg auf die Lichtung des Eschenguts traf, stand am Waldrand eine grüne Ruhebank. Als Blank daran vorbeikam, sagte jemand: »Sind Sie inkognito hier oder darf man Sie ansprechen?«
    Blank erschrak und wandte sich um. Auf der Bank saß Pius Ott. Er trug einen Lodenmantel und einen Filzhut, wie ihn Jäger tragen. Jetzt stand er auf und ging auf Blank zu.
    »Woher wußten Sie, daß ich hier bin?«
    »Ich wußte es nicht.« Ott gab Blank die Hand.
    »Dann sind Sie zufällig hier?«
    »Nicht ganz.« Ott deutete auf Blanks Taschentuchbeutel. »Sie sind Pilzsammler?«
    »Nein. Aber ich fand sie bemerkenswert.«
    Ott streckte die Hand nach dem Beutel aus. »Darf ich?«
    »Verstehen Sie etwas von Pilzen?«
    »Ein wenig schon.« Ott nahm das Taschentuch, legte es auf den Boden, schlug es auf und stieß einen Pfiff aus. »Bemerkenswert ist das richtige Wort.«
    »Sind sie eßbar?«
    »Eßbar? Die jungen Exemplare sind ausgezeichnet! Laden Sie mich dazu ein?«
    »Wohnen Sie auch im Eschengut?«
    »Jedes Jahr drei Wochen.«
    Blank hielt sich an den Kodex und fragte nicht, weshalb.
    Ott schlug die Pilze wieder ins Taschentuch. »Ich sage dem Koch, wie man sie zubereitet, und wir essen sie gemeinsam. Your place or my place? «
    Als Blank zögerte, fügte Ott hinzu: »Ich weiß, es gibt nichts Unangenehmeres als zufällige Begegnungen mit Bekannten in Rehabilitationskliniken. Sie können beruhigt sein: Es ist auch in meinem Sinn, daß wir uns nicht weiter belästigen. Aber diese Pilze müssen sofort gegessen werden. Es sind Tintlinge. Morgen fangen sie an, sich zu verflüssigen.«
    Noch vor ein paar Tagen hätte er Ott in einer solchen Situation bestenfalls ignoriert. Aber zu seiner eigenen Verwunderung sagte er nicht nur zu, sondern willigte auch ein, das Pilzgericht in Otts Zimmer einzunehmen. Blank schrieb das seinen selbstverschriebenen Meditationsübungen zu. Er schien auf dem Weg, wieder ein soziales Wesen zu werden.
    Otts Zimmer lag im Penthouse des Annex. Es war auf drei Seiten von einer Terrasse umgeben, von der aus man das Gut, das Schlößchen und den Wald überblicken konnte. Es besaß einen Wohnraum und ein Schlafzimmer. Die Einrichtung bestand aus Möbeln, die in den achtziger Jahren modern gewesen sein mochten.
    Ein Viertel des Wohnraumes nahm ein Tisch ein, auf dem drei Bildschirme standen. Auf jedem liefen Börsenkurse. Daneben lagen akkurat gebündelte Papiere und exakt ausgerichtet drei Handys. Ein Faxgerät und ein Papierwolf komplettierten Otts temporäre Infrastruktur.
    Bei der Fensterfront zum Westen war ein kleiner Tisch für zwei gedeckt. An der Südseite stand eine kleine Sitzgruppe, ein Sofa und zwei Sessel. »Das Essen wird in einer halben Stunde serviert. Darf ich Ihnen einen Aperitif anbieten?«
    Blank bat um ein Tonic. Ott holte zwei Fläschchen aus dem Kühlschrank und schenkte beiden ein Glas voll.
    »Früher dachte ich, die Unregelmäßigkeit verlängere das Leben. Nie zwei Jahre hintereinander das gleiche tun, sonst kannst du die Jahre nicht mehr auseinanderhalten, und sie verschmelzen zu einem einzigen. Heute glaube ich das Gegenteil: Die Regelmäßigkeit macht das Leben lang. Je mehr die Jahre einander gleichen, desto unmerklicher gehen sie ins Land. Ich komme jedes Jahr um genau diese Zeit hierher und habe immer genau dieses Zimmer. Das Personal altert nur unmerklich und die Stammkundschaft überhaupt nicht.« Ott lachte. »Im Gegenteil: Einige von ihnen werden jedes Jahr jünger. Was tun Sie, um das Leben zu verlängern, Herr Doktor?«
    Blank überlegte. »Vielleicht zu wenig.«
    »Sie gehen jeden Morgen in aller Frühe in den Wald.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich sehe Sie von hier oben. Ich bin auch Frühaufsteher.«
    »Sie beobachten mich?« Blank war irritiert.
    »Seit Sie angekommen sind. Aber keine Sorge. Morgen ist mein letzter Tag.«
    Blank gab keine Antwort.
    »Tut mir leid, eine alte

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