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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Lucille.

10
     
    Das Eschengut bestand aus einem Patrizierschlößchen aus dem achtzehnten Jahrhundert, einem Bauernhof mit seinen Nebengebäuden für den Gutsbetrieb, einem Personalhaus und einem Annex aus den achtziger Jahren, als die Klinik ihren großen Boom erlebte.
    Ins Eschengut gingen Leute, die es sich leisten konnten, um sich von ihrem Herzinfarkt zu erholen, um vom Alkohol loszukommen oder um ihr Übergewicht loszuwerden. Man konnte dort auch seine Zellen auffrischen oder Spuren von kosmetischen Operationen vernarben lassen. Die Institution war spezialisiert auf die Regeneration nach jeder Form von Rückschlägen, die das Leben für die Wohlsituierten bereithält.
    Bei Urs Blank handelte es sich um eine Erschöpfungsdepression. Er hatte ihr vor »Nervenzusammenbruch« den Vorzug gegeben. Er fand, es klang weniger zickig.
    Bei Geiger, von Berg, Minder & Blank hatte man mit einer Mischung aus Besorgnis und Erleichterung von der Diagnose Kenntnis genommen. Besorgnis, weil sie bedeutete, daß einige der wichtigeren Mandate herrenlos geworden waren. Erleichterung, weil sie eine Erklärung für Blanks seltsames Verhalten lieferte. Den Partnern wäre zwar etwas Handfestes wie ein Herzinfarkt oder ein Bandscheibenvorfall als Erklärung für Blanks Ausfall lieber gewesen. Aber eine Erschöpfungsdepression ließ sich, wie Dr. Wenger erklärte, als er sie persönlich ins Bild setzte, auf Überarbeitung zurückführen. Überarbeitung war für einen tüchtigen Wirtschaftsanwalt allemal ein ehrenwerter Ausfallgrund.
    Jedenfalls gelang es ihnen, alle Klienten von Blank für eine Übergangslösung zu gewinnen. Sogar Huwyler war schließlich bereit, sein Mandat in der Kanzlei zu belassen. Es wurde interimistisch von Dr. Geiger betreut. Die Knochenarbeit überließ dieser Blanks Assistenten Christoph Gerber. Er war in das Mandat bereits eingearbeitet und kannte Blanks Arbeitsstil. »Ein zweiter Blank«, wie Geiger Huwyler versicherte.
    Urs Blank war angenehm überrascht vom Eschengut. Das Personal war diskret. Die Ärzte drängten sich nicht auf. Es war einfach, den Mitpatienten aus dem Weg zu gehen. Die meisten waren froh, wenn man sie in Ruhe ließ. Er traf nur ab und zu einige im Schwimmbad oder in den Fitneßräumen. Die Mahlzeiten nahm er in seinem Zimmer ein. Es befand sich in einem Turm des Schlößchens. Seine Fenster gingen in allen Himmelsrichtungen auf den Eschenwald, der die Klinik umgab.
    Dort verbrachte Blank seine Tage.
    Manchmal erwachte er bereits beim ersten Tageslicht. Er stellte sich ans offene Fenster und hörte zu, wie die Vögel den Tag begrüßten. Ein vielstimmiges Gezwitscher und Getriller, das sich bisweilen zu einer einzigen Stimme zusammenfand, wie von einem einzigen Lebewesen.
    Urs zog sich an und ging leise die knarrende Treppe hinunter und hinaus auf den Hof. Er überquerte den Platz zum Gutshof. Im Stall brannte Licht, aus dem Fenster drangen Ländlermusik und das Saugen der Melkmaschine. Blank schlug einen der Wege zum Wald ein, die sich hinter dem großen Gemüsegarten teilten. Je näher er dem Wald kam, desto schneller ging er. Wie jemand, der noch vor dem großen Regen den Unterstand erreichen will.
    Es war Ende Mai. Die Eschen hatten erst vor zwei Wochen ausgetrieben und ließen viel Licht in den Wald. Das saftige Grün des Waldbodens war noch immer gelb gesprenkelt von Waldschlüsselblumen und Goldnesseln. Hie und da blitzte das Weiß eines verspäteten Buschwindröschens auf.
    Nach ein paar hundert Metern verließ Blank den Weg und schlug die Richtung ein, in der ihm der Wald am dichtesten vorkam. Dort, wo die gelblichen Eschenstämme von den moosüberwachsenen des Bergahorns abgelöst wurden, wo im Schatten ihrer mächtigen Kronen Traubenkirsche, Hasel und Pfaffenhütchen ein dichtes Unterholz bildeten, fühlte er sich am wohlsten. Er liebte die Stellen, die aussahen, als hätte sie seit Jahren kein menschlicher Fuß betreten. Er setzte sich auf einen Stein oder einen morschen Stamm oder einfach auf den weichen Waldboden und versuchte, Teil des Waldes zu werden.
    Manchmal, nach Stunden, gelang es ihm, einen Schatten des Gefühls zurückzugewinnen, das ihn an jenem Nachmittag erfüllte, auf dem Meeresgrund des Waldes. An solchen Tagen kehrte er wie befreit ins Eschengut zurück.
    In der zweiten Woche fand er Pilze. Er war auf dem Rückweg in die Klinik. Genau an der Stelle, an der er auf den Waldweg traf, sah er sie am Wegrand. Zuerst dachte er, es seien Kiesel. Er sah nur die

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