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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Geiger: »Gummi.«
    »Wie?«
    »Gummi. Mit Reißverschlüssen.«
    »Wo?«
    »Eben nicht.«
    Jetzt begriff Ott. »Gummi mit Reißverschlüssen. Gefällt dir das?«
    Geiger kicherte und nickte.
    »Und anbinden?« fragte Ott.
    »Ja, anbinden«, lallte Geiger.
    Ott gab ihm die Telefonnummer einer jungen Belgierin, die auf solche Sachen spezialisiert war. Geiger revanchierte sich dafür mit ein paar Informationen über die bevorstehende Megafusion der CONFED .
    Das sommerliche Wetter lockte die Menschen in den Stadtwald. An Stellen, wo Urs noch vor kurzem sicher sein konnte, daß ihm um sechs Uhr früh keine Menschenseele begegnete, stieß er jetzt auf Jogger, Spaziergänger und Naturfreunde. Oder, noch unangenehmer: Sie stießen auf ihn.
    Er hatte eine Technik entwickelt, die ihm half, sich in die Welt des Waldes zu versenken: Er brauchte dazu einen Zweig, ein Farnwedel oder ein Stück Moos. Er hockte sich auf den Boden, umfaßte das Stück Vegetation mit beiden Fäusten, preßte sie gegen die Stirn und schloß die Augen. In dieser Haltung wurde er zweimal aufgeschreckt. Einmal von einem Pärchen, das »oh, pardon!« rief und das er noch lange kichern hörte. Einmal von einer Kinderstimme, die fragte: »Papi, was macht der Mann?«
    Beide Male stieg ein Haß in ihm auf, den zu besänftigen ihn den restlichen Tag kostete. Um sich und die Waldspaziergänger vor den Folgen einer solchen Begegnung zu schützen, zog es ihn immer weiter in die großen Buchenwälder des Mittellandes.
    Schon am Abend suchte er sich auf der Karte eine Stelle aus, wo er den Wagen stehenlassen wollte. Um vier Uhr früh fuhr er los, um kurz nach Sonnenaufgang am Ziel zu sein. Er parkte den Wagen, schulterte seinen kleinen Rucksack und betrat das grüne Dämmerlicht des Waldes.
    Er ging auf dem weichen Boden durch die verblühten Waldmeister, Goldnesseln, Einbeeren, Salomonsiegel und Buschwindröschen. Er suchte sich einen Weg durch die jungen Buchen, die zwischen den Stämmen der alten dichte Barrieren bildeten. Er kämpfte sich durch die Brombeeren, deren Dornen sich in seine Hosenbeine verkrallten.
    Manchmal scheuchte er ein Reh auf, einmal erschreckte ihn eine Bache mit ihren vier Frischlingen, einmal fand er sich Auge in Auge mit einem Rothirsch, ab und zu fuhr ein Kaninchen vor ihm aus seinem Lager, wenn er ihm zu nahe kam. Das und die Vögel und Insekten waren die einzigen Lebewesen, denen er hier um diese Zeit begegnete.
    Seine Streifzüge waren immer ohne Ziel. Er folgte seinem Instinkt, der ihn stets zu den dichtesten, unberührtesten Stellen führte. Nie merkte er sich den Weg. Wenn es Zeit wurde, zum Wagen zurückzugehen, verließ er sich auf seinen Orientierungssinn und auf das Moos und die Flechten, die der Wetterwind auf den Westseiten der Stämme wachsen ließ.
    Nie nahm er Karte und Kompaß mit. Als hoffte er insgeheim, sich im Wald zu verirren.
    Das gelang ihm denn auch an einem der letzten Junitage. Er war bei seinem Streifzug auf ein seltsames Dickicht junger Buchen gestoßen. Sein Zentrum schien von innen heraus zu leuchten. Es bedeckte eine Fläche von vielleicht dreißig Quadratmetern. Von welcher Seite er es auch betrachtete, immer schimmerte Licht aus seiner Mitte.
    Blank kroch durch das Unterholz und erreichte nach wenigen Metern eine kleine Lichtung. Sie bestand aus einer Mulde, deren Erdschicht wohl zu karg war für etwas anderes als ein paar Farne und einen Teppich aus Moos. Der aber war so weich und dick, daß Blank nicht widerstehen konnte. Er mußte sich hineinlegen.
    Er blinzelte in das grüne Licht des Buchenlaubs, roch die Feuchtigkeit des Mooses und fühlte dessen Weichheit. Er schloß die Augen und stellte sich vor, wie er immer tiefer hineinsank in den Grund des Waldes. So nahe war er dem Gefühl noch nie gekommen, das er damals verspürte, als er Teil des Waldes wurde.
    Er erwachte am späten Nachmittag. Er fühlte sich leicht und glücklich. Er ließ sich viel Zeit, seine Mulde zu verlassen und durch das Dickicht in den offenen Wald zu kriechen.
    Ganz langsam, als befürchte er, mit einer brüsken Bewegung das Gefühl zu zerstören, ging er weiter.
    Er versuchte an nichts zu denken. Das Hirn auszuschalten, sich vom Unterbewußtsein lenken zu lassen und jeden profanen Gedanken – wieviel Uhr ist es?, wo bin ich?, in welcher Richtung steht mein Wagen? – fernzuhalten.
    So geisterte er durch den Wald bis zum Eindunkeln. Die Wirklichkeit holte ihn ein mit der Erkenntnis, daß er die Orientierung verloren hatte. In

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