Die dunkle Seite des Mondes
der Umweg, den er gewählt hatte, nicht etwas übertrieben war. Es hatte die ganze Zeit geregnet, und er war keiner Menschenseele begegnet. Seit drei Stunden befand er sich im Wald, seit einer Stunde hatte er den Wanderweg verlassen. Bis zu seinem Versteck war es schätzungsweise noch eine halbe Stunde. Schon zweimal war er auf einem bemoosten Stein ausgerutscht, der sich unter dem Farn verbarg. Er hatte es eilig. Er wollte wissen, ob seine Lichtung unentdeckt geblieben war. Und er konnte es kaum erwarten, das Samthäubchen im Pilzatlas nachzuschlagen.
Die Jungtannendichtung wurde sichtbar. Er nahm das Fernglas und versicherte sich, daß die kleine Tanne vor dem Eingang noch steckte. Kurz darauf hatte er sie erreicht und zog sie heraus. Er duckte sich ins Dickicht und steckte sie wieder in die Erde. Auch die Äste und Büsche, mit denen er den Durchgang tarnte, waren noch an Ort und Stelle. Dem Lagerplatz sah er an, daß er mit dem Kopf nicht ganz bei der Sache gewesen war, als er ihn verließ. Er war etwas unordentlicher als sonst. Aber nichts schien verändert.
Blank machte Feuer und setzte einen Topf mit Wasser auf. Bei einer Tasse Instantkaffee, einem Luxus, den er sich im Lebensmittelgeschäft bei der Jugendherberge geleistet hatte, studierte er den Pilzatlas.
Der deutsche Name des conocybe caesia hieß Safrangelbes Samthäubchen. Es stimmte in Größe, Form und Beschreibung mit Joe Gassers Notizen überein. Blank war das Pilzchen im Atlas schon oft wegen seines leuchtenden Gelbs aufgefallen, aber er hatte sich nie näher dafür interessiert. Es war weder blau noch eßbar.
Aber diesmal las er den Text genau durch. Bei »Vorkommen« stand: »Unter Eiben, erscheint von August bis Anfang November nach Regenfällen, sehr selten.«
Bei »Bemerkungen« stand: »Die lateinische Bezeichnung conocybe caesia bezieht sich sowohl auf das Vorkommen des Pilzes ( caesius = sehr selten) als auch auf das Phänomen, daß sich das Gelb des Samthäubchens kurz nach dem Pflücken blau ( caesius = blaugrau) zu verfärben beginnt.«
Urs Blank studierte das Safrangelbe Samthäubchen. Mit blau verfärbtem Hut und Stiel paßte es genau auf Joe Gassers Beschreibung des Bläulings. Er unterstrich »unter Eiben« mit der roten Mine seines Vierfarben-Kugelschreibers. Er hoffte, daß es in der Nacht zu regnen aufhören würde. Er kannte ein paar Stellen, wo es Eiben gab.
Christoph Gerber kam am späten Nachmittag ins Büro zurück. Er hatte im Auftrag von Pius Ott mit einem Sportbekleidungsunternehmen in Paris Sondierungsgespräche geführt. Gerber schaute seine Post durch und schaltete den Computer ein. Er wollte seine Protokollnotizen in eine präsentable Form bringen. Pius Ott erwartete ihn zur Berichterstattung bei einem kleinen Imbiß bei sich zu Hause.
Er gab sein Paßwort ein und öffnete die Liste der zuletzt benützten Dokumente. Der schnellste Weg, um in das Pariser Dossier von Ott zu kommen.
Keines der zehn aufgelisteten Dokumente stammte aus dem Dossier. Dabei war sich Gerber sicher, daß es die letzten waren, an denen er vor seiner Abreise gearbeitet hatte.
Das allein hätte schon genügt, um ihn zu beunruhigen. Aber in Panik geriet er, als ihm bewußt wurde, welches die zuletzt geöffneten Dokumente waren. Sie stammten alle aus dem »Diesundas«-Dossier und betrafen die EXTERNAG , die BONOTRUST und die UNIFONDA . Jemand hatte den Code geknackt und die Dokumente geöffnet, die die Beteiligungsverhältnisse der EXTERNAG und deren Verbindung zu BONOTRUST und UNIFONDA belegten. Jemand, der sich in Computern auskannte und genau wußte, was er suchte.
Gerber öffnete die Liste der zuletzt geöffneten Programme und gab es auf, nach einer harmlosen Erklärung zu suchen. Das letzte Programm, das benützt wurde, war der Drucker. Der Eindringling hat die Dokumente ausgedruckt.
Jetzt sah er, daß sich auch der Internet-Browser unter den kürzlich benützten Programmen befand. Das war möglich, denn er hatte ihn vor Paris wie jeden Tag benutzt. Aber ein Suchlauf nach allen nach seiner Abreise benutzten Dateien und Programmen beseitigte jegliche Zweifel, daß jemand in seiner Abwesenheit nicht nur in seinem heikelsten Dossier gestöbert, sondern auch den Drucker und das Internet benützt hatte. In der Nacht von vorgestern auf gestern waren zwischen 01:40 und 03:20 320 cache files entstanden. Gerber öffnete einige davon. Sie führten ihn alle zu Internetseiten, die mit Drogen zu tun hatten. Die meisten mit psychedelischen
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