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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes
Autoren: Martin Suter
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setzte sich hinter einen Holzstoß.
    Nach einer Viertelstunde stand der Mann immer noch am Geländer. Blank gab ihm noch zehn Minuten.
    Eine weitere Viertelstunde später hatte sich der Mann noch immer nicht vom Fleck gerührt. Blank zog den Rucksack an und ging die Rampe hinauf.
    Als Blank näher kam, sah er, daß der Alte etwas in der Hand hielt, auf das er jedes Mal drückte, wenn ein Auto vorbeirauschte. Der Mann zählte Autos.
    Blank hatte ihn fast erreicht. Er starrte auf die Autobahn hinunter und bewegte, jedes Mal wenn er auf den Zähler drückte, seine Lippen.
    Blank ging an ihm vorbei. Der Mann wandte den Blick nicht von der Autobahn.
    Blank hätte ihn hinuntergestoßen, wenn er den Mund aufgemacht hätte.

17
     
    Samstage im Oktober bedeuteten Hochsaison für den amtlichen Pilzkontrolleur. Theo Huber stand an seinem kleinen Stand am Rand des Gemüsemarktes und sortierte die Pilze, die ihm die Leute brachten. Die Guten blieben auf dem Tisch und die Ungenießbaren kamen in einen Abfallkübel. Für die Giftigen hatte er einen Eimer, der schwarz gestrichen und mit einem Totenkopf versehen war. Heute enthielt dieser bereits drei Satansröhrlinge, die jemand für Steinpilze gehalten hatte. Sie verursachten starke Magen- und Darmbeschwerden, aber tödlich waren sie nicht. Ganz im Gegensatz zu den sechs Nadelholzhäublingen, die genügt hätten, um eine ganze Familie auszulöschen.
    »Leute«, sagte er immer wieder, »wer Stockschwämmchen nicht von Nadelholzhäublingen unterscheiden kann, sollte die Finger von ihnen lassen.«
    Theo Huber hatte Freude an seiner Aufgabe. Er versuchte den Leuten etwas beizubringen über Pilze und den Umgang mit ihnen. »Ein Semmelstoppelpilz. Den jungen hier können Sie essen, aber dieser alte schmeckt bitter«, erklärte er. Oder: »Der Reifpilz, auch ›Zigeuner‹ genannt. Schmeckt sehr gut, ist aber stark mit Cadmium und seit Tschernobyl mit Cäsium belastet.« Oder: »Ein Grünling! Schmeckt wunderbar, aber Sie sollten ihn das nächste Mal stehen lassen, er ist fast ausgestorben.« Oder: »Lachsreizker. Braten, nicht dünsten. Ein wenig Butter, Salz, Pfeffer, fertig.« Oder: »Nicht erschrecken, der Kupferrote Gelbfuß wird beim Kochen violett. Schmeckt trotzdem ausgezeichnet.«
    Einige der Pilzsammler, die zu ihm kamen, waren langjährige Stammkunden. Sie benützten die Kontrolle nur als Vorwand, um ein wenig mit ihm zu fachsimpeln. Er war einer der besten Pilzkenner im Land.
    Gegen Mittag kamen kaum noch Kunden. Die meisten wußten, daß er um zwölf Uhr Schluß machte. Er hatte die Ausschußpilze schon in den Abfallcontainer gekippt, die Eimer am Brunnen ausgewaschen und Schirm und Markttisch zusammengeklappt. Gerade wollte er alles ins Amtshaus hinübertragen, als ihn ein hagerer, weißhaariger Mann ansprach.
    »Wissen Sie, wo man das Safrangelbe Samthäubchen findet?«
    »Das ist kein Speisepilz.«
    »Ich interessiere mich für die chemische Zusammensetzung.«
    »Sind Sie in der Forschung?« Es war nicht das erste Mal, daß sich jemand nach dem Safrangelben Samthäubchen erkundigte. Es enthielt Stoffe, für die sich die Wissenschaft interessierte. Und auch die wachsende Gemeinde von jugendlichen Drogenpilzliebhabern.
    Der Mann sah eher aus, als gehörte er der ersten Kategorie an. »Man hat mir gesagt, wenn es einen gibt, der mir weiterhelfen kann, sind Sie es.«
    Theo Huber war nicht eitel, aber er wußte ein Kompliment zu schätzen. »Der conocybe caesia ist praktisch ausgestorben. Und wissen Sie warum? Er lebt in Partnerschaft mit der Eibe, die wir auch langsam, aber sicher ausrotten.«
    Der Wissenschaftler war interessiert, und so holte Huber etwas aus. Die Eibe sei wegen ihrer Elastizität für Bogen und Armbrüste sehr gesucht gewesen und schon im Mittelalter vielerorts ausgerottet worden. Und die, die überlebten, hätten dran glauben müssen, weil sie für Pferde giftig seien. Und den paar, die auch das überstanden hätten, werde vom überhöhten Wildbestand der Garaus gemacht.
    Vor allem der letzte Punkt schien den Mann zu interessieren. Er half ihm, die Sachen im Abstellraum des Amtshauses zu verstauen, und lud ihn in der Alten Marktstube zu einem Kaffee ein. Theo Huber nahm ein Bier.
    Eine Weile diskutierten sie über den Waldschädling Nummer eins, das Wild. Ein Thema, von dem der Wissenschaftler viel verstand. Beim zweiten Bier kamen sie wieder auf das Safrangelbe Samthäubchen zu sprechen. »Hut und Stiel beginnen sich gleich nach dem Pflücken blau zu
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