Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes
Autoren: Martin Suter
Vom Netzwerk:
eine Notiz. Blaser war Detektivwachtmeister und Welti Polizeigefreiter. Obwohl ihr Treffen informell war und sie verschiedenen Polizeikorps angehörten, funktionierte die Hierarchie.
    In einem feuchten Tobel, keine zwanzig Kilometer vom Gasthof Sonne entfernt, lehnte der Mann, von dem Blaser und Welti sprachen, am Stamm einer umgestürzten Buche. Sechs Tage waren es her, daß er mit knapper Not Pascha und den Polizisten entkommen war. Er war bestimmt über zweihundert Kilometer gewandert, geklettert, geirrt, gerannt und geschlichen, um eine Distanz von vielleicht hundert Kilometer Luftlinie zurückzulegen. Je näher er seinem Ziel kam, desto mehr strengte er sich an, von niemandem gesehen zu werden. Das letzte Stück hatte er in der Nacht zurückgelegt. Der Mond war fast voll, und der Herbstwind hatte die Wolkendecke immer wieder aufgerissen und etwas Helligkeit zwischen die sich schon lichtenden Buchenkronen gebracht.
    Blank besaß nur eine sehr ungefähre Vorstellung davon, wo das Rubliholz lag. Aber im ersten Licht des Tages hatte er auf einem Wegweiser das Wort »Rublifluh« entziffert. In diese Richtung war er gegangen, bis zu einer schmalen Brücke aus rohen Stämmen. Dort hatte er den Weg verlassen und war dem Tobel gefolgt, aus dem der Bach kam. Er glaubte sich zu erinnern, daß Eiben an steilen Mergelhängen wuchsen.
    Das Tobel wurde immer enger. Von beiden Seiten des Baches stieg es steil an. Blank kam nur mühsam voran an der Böschung, die keinen Halt bot und glitschig war vom bleichen Buchenlaub des letzten Herbstes.
    Auf einmal sah er weit oben zwischen den Stämmen eine Gruppe Eiben. Fast schwarz hoben sie sich vom Hintergrund aus Buchenlaub ab, das sich schon gelbgrün zu verfärben begann. Blank lehnte sich an den Stamm einer umgestürzten Buche und sammelte seine Kräfte für den Aufstieg.
    Er war außer Atem, als er eine halbe Stunde später die Eiben erreichte. Jetzt spürte er, wie sehr ihn der lange Marsch und die karge Ernährung geschwächt hatten. Er trank etwas Wasser aus der Feldflasche und aß die Hälfte seines zweitletzten Pemmikans. Danach band er den Rucksack an einer Buche fest und begann systematisch das Laub- und Nadelstreu abzusuchen.
    Die Eiben rochen nach seiner Kindheit. Im Garten eines Schulfreundes hatte, umgeben von Ligustersträuchern, ein Grüppchen gestanden. Ihre Nadeln waren grün wie die Einmachgläser im Keller und ihre giftigen schleimigen Beeren rot wie der Himbeersirup, mit dem sie an den Sommernachmittagen ihren Durst löschten. Im Halbdunkel der kühlen Höhle, die das niedrige Astwerk der Bäume bildete, hatten sie die ersten Mutmaßungen über die Anatomie des anderen Geschlechts angestellt.
    Die Eiben, die sich an diesem steilen Hang unter die Buchen duckten, kamen ihm nicht weniger ernst und geheimnisvoll vor als damals. Sie wuchsen vereinzelt oder in kleinen Grüppchen zwischen Mehlbeeren, Bergahorn, Alpenheckenkirschen und Wolligem Schneeball.
    Blank suchte sie ab bis zur Stelle, wo der Hangwald an eine Felswand anstieß. Dort kehrte er um und suchte die Eiben auf der anderen Seite des Tobels ab. Er stieß auf eine Stelle, an der das Felsband, das das Tobel gegen Süden abschloß, unterhöhlt war. Die Erosion hatte die Sandsteinschicht bis auf die Nagelfluh abgetragen. So war eine Höhle entstanden von etwa fünf Metern Breite und höchstens zwei Metern Tiefe. An ihrem westlichen Ende bildete ein Fels eine Terrasse von vielleicht fünf Quadratmetern. Das östliche Ende lag im Schutz einer Eibengruppe. Die ganze Öffnung war verhangen von den Wurzeln einer Gruppe krummer Fichten, die auf dem Felsband kümmerten.
    Blank untersuchte die Höhle. Er fand Federn und Knochen, die wohl ein Fuchs vor langer Zeit zurückgelassen hatte. Menschliche Spuren fand er nicht.
    Er machte sich auf den beschwerlichen Weg zur gegenüberliegenden Tobelseite, um seinen Rucksack zu holen. Bei jeder Eibe suchte er den Waldboden ab. Er fand kein Samthäubchen, aber eine ganze Gruppe Riesenschirmlinge, deren schmackhafte Hüte sich wie Schnitzel braten ließen. So hielt sich seine Enttäuschung in Grenzen.
    Der Anwaltskanzlei Geiger, von Berg, Minder & Blank kam die Anfrage der Polizei sehr ungelegen. Aber man versprach, sie auf der Partnersitzung zu besprechen. Von Berg, dem der Anruf des Polizisten durchgegeben worden war, rief die Partner zum nächstmöglichen Termin zusammen. In Anbetracht der Brisanz der Situation erweiterte er den Teilnehmerkreis um die Komplizen Gerber und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher