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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes
Autoren: Martin Suter
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Ott.
    »Bei uns eilt alles.«
    »Dann muß es jetzt gleich sein. Morgen bin ich den ganzen Tag ausgebucht.«
    Gegen neunzehn Uhr traf Ott in voller Jagdkleidung bei der Hauptwache der Stadtpolizei ein. Er wurde in einen Warteraum voller Leute geführt und nach zwei Minuten von Welti abgeholt. »Prima Verkleidung«, sagte einer der Wartenden, als die beiden draußen waren. Ein paar lachten.
    Welti führte Ott in einen Verhörraum und zeigte ihm die Notiz. »Pius Otts Scherzpilz!«
    »Kennen Sie die Handschrift?«
    Ott schüttelte den Kopf.
    »Wissen Sie, was es bedeutet?«
    »Keine Ahnung. Wo haben Sie das her?«
    Während Welti die Umstände des Fundes schilderte, blätterte Ott beiläufig im Atlas. Es gab mehrere Stellen mit Unterstreichungen und Notizen. Alle in der sachlichen Akademikerschrift von jemandem, der viel Übung darin besaß, sich Wissen aus Büchern anzueignen. Keine war so wütend hingesudelt wie »Pius Otts Scherzpilz!«
    »Haben Sie ihn gesehen?« fragte Ott, während er weiterblätterte.
    »Ich nicht, aber ein Kollege. Schlank, mittelgroß, mittellanges dunkles Haar, graumelierter Bart.«
    Ott stieß auf eine Seite, auf der etwas mit rotem Kugelschreiber unterstrichen war. Es war das erste Mal, daß roter Kugelschreiber vorkam. Die Unterstreichung war mehrfach und so stark, daß der Abdruck der drei Striche auf der nächsten Seite zu sehen war. Der Pilz hieß Safrangelbes Samthäubchen, conocybe caesia. Die so aufgeregt unterstrichene Stelle lautete »unter Eiben«. Ott merkte sich den Namen und blätterte weiter.
    »Und was hat der Mann ausgefressen, außer im Wald zu kampieren?« erkundigte sich Ott.
    »Wir wissen es nicht. Aber einer, der Hunde aufspießt, hat kein reines Gewissen.«
    »Ihr Hund?«
    Welti nickte. »Pascha.«
    Ott versprach sich zu melden, falls ihm etwas einfiel.
    Kurz nach Tagesanbruch war Ott auf dem Anschuß. Es war ein grauer Morgen. Es sah nach Regen aus. Er schnallte die Dachsbracke an den langen Schweißriemen, ließ sie Witterung aufnehmen und befahl: »Such verwundet!«
    Mit tiefer Nase begann die Bracke die Spur auszuarbeiten. Normalerweise liebte Ott die Nachsuche. Er verkörperte dann die Unausweichlichkeit des Schicksals. Es gab kein Entkommen vor ihm. Nur die Wahl zwischen schon gestorben sein oder noch getötet werden.
    Aber diesmal war er nicht bei der Sache. Der Gedanke an Urs Blank, der ihn fast die ganze Nacht wachgehalten hatte, ließ ihn auch jetzt nicht los.
    Blank versteckte sich also im Wald. Er war so überlebenstüchtig, daß er jagen und Fleisch konservieren und Pilze trocknen konnte. Er besaß die Instinkte und die Kondition, Polizisten zu entkommen, und die Kaltblütigkeit, Polizeihunde abzustechen.
    In irgendeinem dieser Wälder lebte ein Mann, der offiziell als tot galt. Und er, Pius Ott, war der einzige, der das wußte.
    Die Dachsbracke zog am Riemen. Ott beschleunigte sein Tempo. Schließlich blieb sie stehen und verbellte etwas. Er ging auf die Stelle zu.
    Der Dreistangenbock versuchte sich von seinem Wundbett aufzurichten. Aber die Hinterläufe gehorchten ihm nicht.
    Pius Ott war kein Freund des Fangschusses im Wundbett. Er zog die persönlichere Methode vor. Er klappte das Jagdmesser auf, beugte sich zum Bock und stieß ihm die Klinge seitlich zwischen die Rippen auf die Lungen.
    Er wartete, bis der Bock verendet war. Dann legte er ihn auf den Rücken und machte sich an die rote Arbeit.
    Kurz darauf war die Luftröhre freigelegt und über dem Kehlkopf durchgetrennt, der Schlund verknotet, Hodensack und Penis abgeschärft, der Bock aufgebrochen und versorgt.
    Er brach einen kleinen Fichtenzweig, benetzte ihn mit ein wenig Blut vom Krellschuß und steckte ihn an den Hut. Einen größeren Bruch heftete er dem Hund ans Halsband, als Dank für die erfolgreiche Nachsuche. Einen dritten Bruch steckte er dem Dreistangenbock als letzten Bissen in den Äser.
    Pius Ott war ein weidgerechter Jäger.
    Die Buchhandlung Harder war ein kleines Geschäft, spezialisiert auf Natur und Garten. Sie lag in einem Altstadthaus im Zentrum. Der turmähnliche Erker an seiner Fassade lieferte das Motiv zum Firmensignet, das der Gefreite Welti im Buchdeckel des Pilzatlas gefunden hatte.
    Mit diesem unter dem Arm betrat er jetzt den Laden.
    Diese Art von Ermittlungen gehörte eigentlich nicht zur Arbeit eines Hundeführers. Er hatte weder die Erfahrung noch, wenn er ehrlich war, die Legitimation dazu. Er hatte sich erhofft, das Gespräch mit Pius Ott würde weitere
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