Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Schwestern sie und schickten sich gegenseitig die Fotos zu. Odile hat Jean-Pierre, den Sohn, den sie ihrer Schwester überlassen hatte, nicht aufwachsen sehen. Sie kannte nur die Fotos, die sie mit Bildern von François mischte, sodass sie niemandes Aufmerksamkeit erregten.«
»Die beiden Kinder wussten natürlich nichts von dem Handel«, warf Bernard Balmes ungewöhnlich ernst ein. »Da sie aber eineiige Zwillinge waren, spürten sie intuitiv die Existenz des jeweils anderen und lebten in der Hoffnung, ihm eines Tages zu begegnen.«
Das Meeting wurde von einer Gruppe Polizisten unterbrochen, die von der Hausdurchsuchung bei François Brial zurückkehrte. Einer der Beamten stellte einen Karton auf Mistrals Konferenztisch.
»Davon stehen noch etwa zwanzig Stück im Flur. Es sind die Tagebücher von François Brial, auch wenn sie die Initialen seines Bruders tragen. Wir haben ein paar davon überflogen. Zum ersten Mal scheinen wir Glück zu haben, denn er hat sein Leben und seine Träume minutiös aufgeschrieben, seitdem er schreiben gelernt hatte. Es gibt auch Hefte, die über das gemeinsame Leben der Zwillinge berichten. Gemeinsam haben sie jahrelang die schrecklichsten Gräueltaten begangen. Veritable Blutbäder, und nicht nur in Frankreich. Die Tagebücher können uns dabei helfen, ihre mörderischen Spuren zu verfolgen.«
»Mich wundert gar nichts mehr. Ich werde sicher ein paar dieser Hefte durchlesen. Sonst noch etwas Interessantes?«
»Ein echter Polizeiausweis samt Etui. Er ist auf den Namen Michel Lavaur ausgestellt und wurde wahrscheinlich vor einigen Jahren gestohlen.«
Mistral begutachtete den Ausweis, den der Beamte ihm hinhielt.
»Wir werden versuchen herauszubekommen, woher er stammt. Das Foto zeigt einen ganz normalen Mann ohne besondere Kennzeichen. Bestimmt hat er den Leuten den Ausweis unter die Nase gehalten und dabei einen Teil des Fotos mit dem Finger verdeckt. Noch etwas?«
»Auf dem Tisch standen jede Menge Medikamente. Ich habe alle mitgebracht.«
»Gut, dass zufällig ein Arzt da ist. Er kann uns sicher Näheres dazu sagen.«
Thévenot nahm die Schachteln und Fläschchen aus der Tüte und überflog die Aufschriften.
»Schon klar. Es handelt sich um Medikamente gegen schizophrene Anfälle und die Arnold’sche Neuralgie. Was das genau ist, erkläre ich Ihnen später. Außerdem haben wir hier hochwirksame Schmerzmittel. Ihr Mann scheint ganz schön was durchzumachen.«
Bernard Balmes trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch.
»Könntest du jetzt deinen Bericht fortsetzen?«, bat er Mistral. »Ich muss unsere Chefin noch informieren. Am Montag kommt sie zwar aus dem Urlaub zurück, aber bis dahin verlangt sie mindestens alle vierundzwanzig Stunden ein Update.«
»Odile Brial hat sich nie wirklich von ihrer Depression erholt. Um nicht daran denken zu müssen, dass sie eines ihrer Kinder weggegeben hatte, rief sie ihren Sohn François zum großen Missfallen ihrer Schwester meistens Jean-Pierre. Und der kleine François begriff natürlich nicht, wieso er plötzlich einen anderen Namen bekam.«
»Was bestimmt zusätzlich zur Bildung einer gespaltenen Persönlichkeit beigetragen hat«, warf der Psychiater ein.
»Bei einer solchen Familiengeschichte kann man weiß Gott nicht davon ausgehen, dass so ein Kind im späteren Leben klarkommt«, bekräftigte Balmes.
»François’ Werdegang war geradezu klassisch«, fuhr Mistral fort. »Eine schwer gestörte Mutter, Schulabbruch, schlechter Umgang, Diebstähle, Morde, Rauschgift – das volle Programm. Und irgendwann hat er festgestellt, dass der andere tatsächlich existierte. Interessanterweise hat er bei seinem Weggang von daheim Dokumente mitgenommen, die er seiner Mutter gestohlen hatte. Allerdings hat er sie erst Jahre später gelesen. Odile Brial hatte auf wenigen Seiten die Geschichte der getrennten Zwillinge beschrieben. Als François davon wusste, hatte er keine Probleme, seinen Bruder zu finden, der noch immer bei seiner Adoptivmutter lebte. Sie taten sich sofort zusammen und gingen auf und davon. Viviane wünschte ihrer Schwester dafür die Pest an den Hals. François war der Dominante, und Jean-Pierre tat, was er sagte.«
»Wann endet der Polizeigewahrsam?«
»Um halb elf. Anschließend müssen die beiden Schwestern vor dem Untersuchungsrichter erscheinen. Ich werde auch Tarnos, den Richter in Pontoise informieren. Mit diesem Belastungsmaterial und den Heften kann er Jean-Pierre Brial problemlos wieder
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